Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch bei Beschäftigung in mehreren EU-Mitgliedstaaten

 

Leitsatz (redaktionell)

1) Ein nach deutschem Recht gemäß §§ 62 ff. EStG bestehender Anspruch auf Kindergeld wird durch die VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EWG) Nr. 574/72 nicht ausgeschlossen, wenn Deutschland "Wohn- Mitgliedstaat" ist, die Kindergeldberechtigte in Deutschland selbständig tätig ist und eine weitere nichtselbständige Tätigkeit in Belgien ausübt ("Beschäftigungs-Mitgliedstaat).

2) Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) i) der VO (EWG) Nr. 574/72 geht Art. 14c der VO (EWG) Nr. 1408/71 vor.

3) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG findet im Hinblick auf die Vorrangigkeit der einschlägigen europarechtlichen Regelungen keine Anwendung.

 

Normenkette

EStG §§ 62 ff, 65 Abs. 1 Nr. 2; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 13-14, 73; VO (EWG) Nr. 574/72 Art. 10; EStG § 32 Abs. 4

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 10.02.2012; Aktenzeichen III R 60/08)

 

Tatbestand

Die Beteiligten stritten ursprünglich um die Gewährung von Kindergeld ab Dezember 2004; streitentscheidend ist u.a. die Frage nach der Anspruchskonkurrenz zwischen Wohnsitz- und Beschäftigungsstaat.

Die Klägerin ist von Beruf Hebamme. Sie ist die Mutter des am …1982 geborenen Kindes …; der Kindesvater ist verstorben. Für die Tochter war vom Beklagten Kindergeld festgesetzt worden.

I.

Der zu diesem Zeitpunkt 21jährigen Tochter … wurde durch Bewilligungsbescheid vom …2003 eine Halbwaisenrente bewilligt.

Nach einer Schulausbildung begann die Tochter, die zu diesem Zeitpunkt das 22. Lebensjahr vollendet hatte, am …2004 ein freiwilliges soziales Jahr beim …. Diese Beschäftigung endete am …2005. Seit dem …2005 war die Tochter bei der …-Behindertenwerk GmbH als Praktikantin tätig.

Die Klägerin selbst erzielte zunächst Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Inland; sie war seit 1996 als Heilpädagogin bei dem … e.V. in Heinsberg tätig.

Der Klägerin wurde dann unter dem ….2004 die Berechtigung erteilt, eine Tätigkeit als Hebamme auszuüben.

Ab Januar 2005 war die Klägerin freiberuflich als Hebamme in Deutschland – im Kreis … – tätig und erzielte insoweit Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Die Klägerin begann darüber hinaus im Sommer 2005 mit einer freiberuflichen Tätigkeit als Dozentin in einer Hebammenpraxis in …

Bereits am …2004 hatte die Klägerin zudem eine nichtselbständige Erwerbstätigkeit in Belgien begonnen; die Klägerin schloss entsprechende Arbeitsverträge mit einem Hospital (Krankenhaus) in … ab. Die Arbeitsverträge waren zunächst befristet, da die Klägerin als Schwangerschaftsvertretung eingesetzt wurde. Die Klägerin arbeitete ab dem …2005 auf 75% und ab dem ….2005 auf 50% einer vollen Stelle.

Ab dem ….2006 schloss die Klägerin mit dem Hospital einen unbefristeten Vertrag auf der Basis einer halben Stelle.

II.

Mit Bescheid vom …2004 hatte die Beklagte – rückwirkend ab September 2003 – der Klägerin Kindergeld für die Tochter … bewilligt.

Am …2004 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie – wie dargelegt – am …2004 eine Erwerbstätigkeit in Belgien beginnen werde.

Hierauf setzte sich die Beklagte mit der belgischen Familienkasse zur Abklärung der weiteren Zahlung von Kindergeld in Verbindung. Mit Schreiben vom 13.01.2005 teilte die belgische „Familienzulagenkasse” (Familienkasse) mit, dass in Belgien kein Anspruch auf Kindergeld bestehe, weil das seitens der Tochter absolvierte soziale Jahr nicht unter den Begriff der für die Gewährung von Kindergeld erforderlichen „Ausbildung” falle.

Gleichwohl hob die Beklagte mit Bescheid vom …2005 die Festsetzung des Kindergeldes mit der Begründung auf, durch die Aufnahme der Erwerbstätigkeit in Belgien hätten sich die Anspruchsvoraussetzungen geändert. Nach den einschlägigen europarechtlichen Regelungen unterliege die Gewährung von Kindergeld an eine abhängig beschäftigte Person den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie beschäftigt sei (Beschäftigungsstaat), unabhängig vom Wohnsitz (Wohnsitzstaat). Dies treffe auch dann zu, wenn im Beschäftigungsstaat durch die dortigen Rechtsvorschriften kein Kindergeld gezahlt werde.

Gegen den Bescheid vom …2005 legte die Klägerin mit Schriftsatz vom …2005 – bei der Beklagten eingegangen am …2005 – Einspruch ein.

Mit ihrem Rechtsbehelf bat die Klägerin, ihr weiterhin Kindergeld zu gewähren, da ihr die einschlägigen europarechtlichen Vorschriften unbekannt seien. Auch wies die Klägerin darauf hin, dass ihr die Arbeitsaufnahme in Belgien nicht zum Nachteil gereichen dürfe, da sie dem Arbeitsamt „Arbeitslosengeld” erspare. Darüber hinaus argumentierte die Klägerin, es wäre wohl in jedem Fall eine Zahlung von Kindergeld erfolgt, wenn der Kindesvater noch gelebt hätte.

Mit Einspruchsentscheidung vom …2005 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Die Beklagte rechtfertigte ihre Entscheidung im wesentlichen mit dem Hinweis, dass wegen der Arbeitsaufnahme in Belgien ein Anspruch auf Zahlung von Kindergeld in Deutschland nicht mehr bestehe. Zwar seien die Voraussetzungen des einschlägigen § 62 Abs....

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