Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Organisation der Ausgangskontrolle von fristgebundenen Schriftsätzen bei Berufsträgern
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Organisationspflicht eines Angehörigen der steuer- und rechtsberatenden Berufe gehört die Einrichtung einer effektiven Ausgangskontrolle, die eine fristgerechte Fertigung und tatsächliche Versendung fristwahrender Schreiben gewährleistet und einen gestuften Schutz gegen Fristversäumnisse bietet. Dies erfordert, dass der Ausgang eines fristwahrenden Schriftstücks nicht dokumentiert wird, solange die zur Absendung erforderlichen Arbeitsschritte nicht vollständig erledigt sind.
2. Damit versehentlich gelöschte Fristen erkannt werden, bedarf es der Anordnung des verantwortlichen Berufsträgers, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft daraufhin überprüft wird, ob die als erledigt vermerkten Schriftsätze tatsächliche abgesandt worden sind oder die fristwahrende Handlung noch aussteht („allabendliche Ausgangskontrolle”).
3. Eine wirksame End- und Ausgangskontrolle, um ein mögliches Organisationsverschulden beurteilen zu können, ist nicht hinreichend substantiiert dargelegt, wenn lediglich vorgetragen wird, eine sonst zuverlässige, fähige und gewissenhafte Bürokraft, die bislang ausnahmslos gute Arbeit geleistet habe, habe die Frist entgegen der Anweisung versehentlich als erledigt markiert, obwohl das zu fertigende Schriftstück noch nicht erstellt war und versandfertig vorlag. Ebenso wenig genügt ein genereller Hinweis auf Schulungen (hier: „regelmäßige Schulungen sämtlicher Mitarbeiter”), soweit daraus nicht erkennbar ist, in welchen zeitlichen Abständen, in wie vielen Fällen, in welcher Art und Weise und zu welchen Themen im Einzelnen sowie für welche Mitarbeiter solche Schulungen stattgefunden haben.
Normenkette
AO § 110 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 1 S. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in verfahrensrechtlicher Hinsicht über die Zulässigkeit eines Einspruchs gegen die Einkommensteuerfestsetzung und die Festsetzung eines Verspätungszuschlags für 2019.
Der Kläger ist Rentner. Er erzielte im Streitjahr Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie sonstige Einkünfte aus einer Rente. Da er trotz Aufforderung keine Steuererklärung abgegeben hatte, schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Einkommensteuer 2019 sowie einen Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2019 mit Bescheid vom 1.10.2021 fest. Der Bescheid stand nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und war an die „A Partnerschaftsgesellschaft…” (steuerliche Beraterin des Klägers, im Folgenden: A) als Empfangsbevollmächtigte adressiert. Für nähere Einzelheiten wird auf den Steuerbescheid Bezug genommen.
Der Bescheid ging der A am 4.10.2021 zu und wurde bestandskräftig.
Mit einem beim Beklagten am 3.12.2021 eingegangenen Schreiben vom 1.12.2021 erhob die A Einspruch gegen die Festsetzung der Einkommensteuer und des Verspätungszuschlags für 2019 und beantragte hinsichtlich der versäumten Einspruchsfristen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO. Zur Begründung führte sie aus, dass kein Mangel in ihrer Büroorganisation vorliege und die Fristversäumnis daher unverschuldet sei. Sie – die A – verfüge über einen separaten Postausgangskorb für das Finanzamt, in dem die jeweiligen Schriftstücke vor ihrer Versendung abgelegt würden. Zudem werde mittels Datev ein elektronisches Postausgangsbuch geführt. Der Postausgang werde dort unveränderlich festgeschrieben, sobald die Post versandt worden sei. Zudem verfüge sie über „nachvollziehbare und dokumentierte Geschäftsprozesse”, die für sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festlegten, wie Eingangspost zu bearbeiten sei. Der verantwortliche Berufsträger (Partner) der A schule als Rechtsanwalt und Steuerberater regelmäßig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin, dass Fristen erst dann als erledigt gekennzeichnet werden dürften, wenn sie durch Absendung der entsprechenden Schriftstücke auch tatsächlich erledigt seien. Im Rahmen des Organisationsablaufs würden alle eingehenden Schriftstücke gescannt, sortiert und – soweit erforderlich – der elektronischen Fristenüberwachung zugeführt. Alle Mitarbeiter seien in diese Prozesse eingewiesen und arbeiteten hiernach grundsätzlich zuverlässig. So werde die Eingangspost zunächst mit einem Posteingangsstempel und – soweit es sich um einen Bescheid handele – einem Bescheidstempel versehen. Die Post werde sodann zur Durchsicht einem Berufsträger vorgelegt. Die Post werde dann gesichtet und den einzelnen Sachbearbeitern mit dem jeweiligen Kürzel zugeteilt. Nach der Zuteilung werde die Post gescannt und in Datev mithilfe des Dokumentenkorbs abgelegt. Zeitgleich werde ein Posteingang angelegt. Mit Anlegen des Posteingangs würden automatisch die entsprechenden Fristen im Fristenkontrollbuch hinterlegt. Sodann werde das Dokument im Dokumentenmanagementsystem abgelegt. Danach seien sowoh...