Entscheidungsstichwort (Thema)
Differenzkindergeld für ein in Polen bei der geschiedenen Mutter lebendes Kind
Leitsatz (redaktionell)
Ein in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtiger Arbeitnehmer hat für ein bei seiner geschiedenen Frau lebendes Kind Anspruch auf Differenzkindergeld unter Anrechnung des polnischen Kindergeldes, das seine geschiedene Frau bezieht.
Normenkette
EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 2 Abs. 1; VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 3 Abs. 1j; EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung aufgrund vorrangiger Berechtigung der in Polen lebenden Mutter.
Der geschiedene Kläger lebt in Deutschland und ist hier unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Sein am ….12.2000 geborener Sohn A lebt bei der erwerbstätigen Mutter in Polen. Diese bezog im Streitzeitraum für A polnisches Kindergeld.
Mit Bescheid vom 26.03.2010 setzte die Beklagte für A ab April 2010 den Unterschiedsbetrag zwischen dem deutschen und dem polnischen Kindergeld (sog. Differenzkindergeld) fest. Die Festsetzung erfolgte vorläufig bis zum Vorliegen einer Bescheinigung über die Höhe der in Polen bezogenen Familienleistungen. Mit Bescheid vom 16.07.2010 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 gemäß § 70 Abs. 3 EStG mit der Begründung auf, dass seit dem Inkrafttreten der Verordnungen (EG) 883/2004 und (EG) 987/2009 aufgrund der Haushaltsnahme des Kindes bei der Mutter nur diese als vorrangig Berechtigte Anspruch auf Differenzkindergeld habe. Der hiergegen am 28.07.2010 erhobene Einspruch hatte insoweit Erfolg, als mit Bescheid vom 31.08.2010 das Kindergeld erst ab August 2010 gemäß § 70 Abs. 3 EStG aufgehoben wurde. Mit Einspruchsentscheidung vom 02.09.2010 wies die Beklagte den Einspruch im Übrigen zurück. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 30.09.2010 eingegangenen Klage.
Zur Klagebegründung führt der Kläger an, dass die Vorrangregelung des § 64 EStG überhaupt nicht greife, da die Mutter von A mangels Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland überhaupt nicht im Sinne von § 62 EStG kindergeldanspruchsberechtigt sei. Hieran ändere auch die VO (EG) 883/2004 sowie die hierzu erlassene und am 01.05.2010 in Kraft getretene Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 nichts. Zwar sei nach der sog. Familienbetrachtung in Art. 60 Abs. 1 VO (EG) 987/2009 auf die Situation der gesamten Familie in der Weise abzustellen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschrift des betreffenden Mitgliedsstaates fallen und dort wohnen, doch bedeute dies nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht, dass eine bestehende Kindergeldberechtigung entfiele. Vielmehr wolle diese Vorschrift die Freizügigkeit fördern, den Doppeltbezug von Kindergeld verhindern und sicherstellen, dass allen Beteiligten entsprechende Leistungen zugutekommen. Dies sei insbesondere auch aufgrund der Situation, dass die Eltern von A geschieden sind, bei der Versagung des Kindergeldanspruchs des Klägers nicht gewährleistet.
Der Kläger beantragt,
den Aufhebungsbescheid vom 16.07.2010, geändert durch Bescheid vom 31.08.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.09.2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist die Beklagte erneut auf die Änderung des EU-Rechts ab dem 01.05.2010, wonach i.V.m. § 64 Abs. 2 EStG die in Polen lebende Kindesmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Zu Unrecht hat die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für A gegenüber dem Kläger ab August 2010 mit der Begründung aufgehoben, der Kindergeldanspruch stehe dem Kläger aufgrund der Haushaltszugehörigkeit des Kindes bei der Mutter nicht zu. Der Kläger hat nach wie vor Anspruch auf Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen dem deutschen und dem polnischen Kindergeld.
1.
Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des im Streitjahr gültigen Einkommensteuergesetzes (EStG) hat u.a. derjenige, der seinen Wohnsitz im Inland hat, Anspruch auf Kindergeld für ein Kind im Sinne des § 32 EStG, das ebenfalls seinen Wohnsitz im Inland oder aber im EU-Ausland oder in einem EWR-Staat hat (Umkehrschluss aus § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Kläger hat seinen Wohnsitz im Inland, das 10-jährige Kind ist berücksichtigungsfähig nach § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG und hat seinen Wohnsitz im EU-Ausland, nämlich Polen.
2.
Der hiernach gegebene Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld (§ 66 Abs. 1 Satz 1 EStG) wird weder durch Unionsrecht noch nach nationalem Recht ausgeschlossen. Das polnische Kindergeld ist jedoch in europarechtskonformer Anwendung des § 65 Abs. 1 EStG auf das deutsche Kindergeld anzurechnen.
a.
Der Kläger fällt als deutscher Arbeitnehmer hinsichtlich seines Kindergeldanspruchs unter den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit v. 19.04.2004 sowie die hierzu ergangene Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 vom 16.09....