Entscheidungsstichwort (Thema)
Örtliche Zuständigkeit für den Billigkeitserlass von zurückgefordertem Kindergeld
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Klage ist gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO auch dann gegen die Behörde zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat, wenn diese Behörde schon von Anfang an für den Steuerfall örtlich und sachlich zuständig war und der zugrundeliegende Verwaltungsakt von einer örtlich oder sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde.
2. Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund der Konzentrationsermächtigung des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 FVG befugt, durch den Beschluss 21/2013 vom 18.04.2013 (ANBA Mai 2013 Seite 5/17 bis 5/18) bzw. ab dem 01.01.2020 durch den Beschluss 33/2019 vom 24.10.2019 (ANBA Ausgabe April 2020, S. 3) die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des sog. Inkasso Services im Bereich des steuerlichen Kindergeldes abweichend von der Regelzuständigkeit nach dem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Kindergeldberechtigten bei regionalen Familienkassen zu zentralisieren. Diese Übertragung der Zuständigkeit für die Bearbeitung der Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Inkasso Services schließt die Übertragung der Zuständigkeit für die zugrundeliegenden Entscheidungen im Bereich des Inkasso Services und damit die Zuständigkeit für eine Erlassentscheidung gemäß § 227 AO ein.
3. Es liegt keine Verletzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 90 Abs. 1 Satz 2 AO oder § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG vor, wenn ein Kindergeldberechtigter in der nach amtlichem Vordruck abgegebenen „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis”, in der lediglich die Alternativen eines beendeten oder nicht beendeten Ausbildungsverhältnisses vorgesehen sind, die Elternzeit seines Kind wegen Betreuung des eigenen Kindes nicht angibt, weil er davon ausgeht, dass die Elternzeit am Fortbestand des Berufsausbildungsverhältnisses seines Kindes nichts ändert. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit darf der rechtlich nicht vorgebildete Kindergeldberechtigte darauf vertrauen, dass ihm in einem Antragsvordruck alle für den konkreten Sachverhalt relevante Fragen (hier: Berufsausbildung eines über 18 Jahre alten Kindes) gestellt werden, zumal die Rechtslage zu den Auswirkungen der Elternzeit auf ein Ausbildungsverhältnis bereits seit mehreren Jahren durch ein BFH-Urteil geklärt war und der Erklärungsvordruck dennoch nicht entsprechend aktualisiert wurde.
Normenkette
FGO § 63 Abs. 2 Nr. 1, § 68 S. 1; FVG § 5 Abs. 1 Nr. 11 S. 4; AO § 90 Abs. 1 S. 2; EStG § 68 Abs. 1 S. 1; AO § 227; FGO § 63 Abs. 1 Nr. 2
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob die beklagte Familienkasse verpflichtet ist, das vom Kläger zurückgeforderte Kindergeld April 2016 bis Januar 2017 (im Folgenden: Streitzeitraum) sowie Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.
Der Kläger ist der Vater der am ….1998 geborenen Tochter M. Für sie erhielt er von der Familienkasse E bis Januar 2017 Kindergeld nach dem EStG. Die Tochter wurde am ….2014 selbst Mutter von M1. Der Kläger lebte mit der ganzen Familie in Q in der T-Straße …. M erhielt mindestens von Oktober 2015 bis September 2017 vom Jobcenter der Stadt Q Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Wegen der Einzelheiten wird auf die Bescheide vom 16.10.2017, 7.3.2016, 6.10.2016 und 17.1.2017 Bezug genommen. Bei der Ermittlung ihres monatlichen Bedarfs berücksichtigte das Jobcenter jeweils auch das Kindergeld, dass der Kläger für M von der Familienkasse erhielt, als Einkommen. Am ….2015 begann M eine vom Jobcenter getragene und auf zwei Jahre angelegte Ausbildungsmaßnahme als Verkäuferin, die von der X GmbH durchgeführt wurde. Die reduzierte Ausbildungsvergütung zahlte das Jobcenter aus und stockte diese um die Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auf. Als ihre Ausbildung zu Problemen bei der Betreuung der erst ein Jahr alten M1 führte, nahm M mit Zustimmung der X GmbH gemäß dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz ab dem ….11.2015 Elternzeit in Anspruch.
Am ….3.2016 stellte der Kläger im Hinblick auf die kurz bevorstehende Vollendung des 18. Lebensjahrs seiner Tochter bei der Familienkasse E einen Kindergeldantrag. In der „Anlage Kind” erklärte er, dass sich seine Tochter vom „02.02.2015 bis 02.02.2018” in der Berufsausbildung als Verkäuferin befinde. In einer zusätzlichen formularmäßigen „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis” war der „01.02.2017” als voraussichtliches Ende der Ausbildung angegeben. Diese Erklärung wurde mit einem Stempel der X GmbH als Ausbildungsbetrieb versehen, das die Angaben richtig und vollständig seien, und am ….3.2016 von einem Mitarbeiter der GmbH unterzeichnet, ferner trägt die Erklärung die Unterschrift des Klägers und von M. Die Konstellation, dass ein Auszubildender – wie im Streitfall – während eines laufenden Ausbildungsverhältnisses Elternzeit in Anspruch nimmt, wurde in dem Vordruc...