Entscheidungsstichwort (Thema)
Wertpapier. Warrant. physische Abwicklung. Gutschrift auf Edelmetallkonto als Einlösung im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Wertpapier ist eine Urkunde, in der bestimmte Rechte verbrieft sind, die nur von demjenigen geltend gemacht werden können, der sich im Besitz dieser Urkunde befindet. Die Rechte können auch in einer Globalurkunde verbrieft sein und im Wege des im heutigen Massengeschäft üblichen Effektengiroverkehrs, das heißt ohne die körperliche Bewegung von Wertpapierurkunden, übertragen werden.
2. Ein in Inhaberform ausgegebener und durch eine dauerhafte Globalurkunde gemäß Art. 973b des Schweizerischen Obligationenrechts ohne Zinsscheine verbriefter „Warrant” ist ein Wertpapier in diesem Sinne und kein Termingeschäft.
3. Einnahmen im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG sind alle Geldbezüge oder Sachleistungen, die bei der Einlösung, Rückzahlung oder Abtretung zufließen. Erfasst ist sowohl die vertragsmäßige Einlösung zum Zeitpunkt der Endfälligkeit bzw. zum Zeitpunkt vereinbarter Einlösungstermine als auch jede andere vorzeitige oder verspätete Einlösung.
4. Übt der Inhaber des Warrants das ihm zustehende Wahlrecht dahin aus, statt einer Barablösung eine physische Abwicklung durch Lieferung von Gold zu verlangen, so stellt die Gutschrift des Goldes auf dem Edelmetallkonto eine Einlösung im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG dar.
Normenkette
EStG § 20 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 S. 1 Nr. 7, S. 2, Abs. 4 S. 1, Abs. 4a S. 3
Tenor
1. Der Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 10. März 2022 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Mai 2022 wird dahin geändert, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die nach § 32d Abs. 1 EStG besteuert werden, um 1.871.115,69 EUR gemindert werden. Die Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer wird dem Beklagten übertragen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 93 %, der Beklagte zu 7 %.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Der Kläger erwarb am 11. November 2015 jeweils 28 Stück Bull-Zertifikate und Bear-Zertifikate des Emittenten zu Anschaffungskosten in Höhe von jeweils insgesamt 28.030.000 EUR; der Nominalwert der Zertifikate betrug jeweils 1.000.000 EUR. Die Anschaffungskosten finanzierte er mit einem Darlehen in Höhe von 60.480.000 EUR, das er am selben Tag beim Emittenten aufgenommen hatte. Die Zertifikate wurden am 16. und 19. November 2015 in sein Depot bei der Bank gebucht.
Basiswert der nicht verzinslichen Bear-Zertifikate war der „Gold Spot” (Bloomberg Ticker: „XAUEUR Curncy”), d.h. der Kurswert einer Feinunze Gold in Euro. Die Höhe der Rückzahlung hing davon ab, wie sich der Basiswert während des Beobachtungszeitraums vom 23. November 2015 bis 27. November 2015 im Verhältnis zu den Kursschwellen von 101 % (Barrier 1) und 99 % (Barrier 2) des Preises des Basiswerts am 23. November 2015 entwickelte. Danach erhielt der Inhaber des Bear-Zertifikats bei Fälligkeit entweder:
1) wenn der Basiswert zu jeder Zeit während des Beobachtungszeitraums nie bei oder oberhalb Barrier 1 und bei oder unterhalb Barrier 2 gehandelt wurde, 1.002.500 EUR; oder
2) wenn mindestens Barrier 1 oder Barrier 2 erreicht wurde, Barrier 1 jedoch zuerst,
a. 30.500 EUR, falls am 11. Dezember 2015 der Basiswert gleich oder größer war als der Basiswert am 23. November 2015; oder
b. 29.500 EUR, falls am 11. Dezember 2015 der Basiswert geringer war als der Basiswert am 23. November 2015; oder
3) wenn mindestens Barrier 1 oder Barrier 2 erreicht wurde, Barrier 2 jedoch zuerst, konnte der Inhaber nach alleinigem Ermessen zwischen dem Erhalt von 1.900.000 EUR oder eines Warrants, bei Fälligkeit (physische Bereitstellung, wurde automatisch vom Emittenten im Verhältnis 1:1 eingetauscht) wählen.
Im Fall von Szenario 1) und 3) war Fälligkeitstag der 2. Dezember 2015; im Fall von Szenario 2) wurde die Fälligkeit auf den 14. Dezember 2015 hinausgeschoben. Der Warrant konnte anstelle der Barauszahlung unter Verwendung eines Formulars oder schriftlich auf andere Weise ausgewählt werden. Erhielt der Emittent diese Benachrichtigung nicht zwei Werktage vor der Fälligkeit zugunsten des Optionsscheins, so wurde in bar abgewickelt.
Für die Bull-Zertifikate galten die gleichen Bedingungen, jedoch mit dem Unterschied, dass das erstmalige Erreichen von Barrier 2 zum Szenario 2 und das erstmalige Erreichen von Barrier 1 zum Szenario 3 führte.
Der Inhaber des Warrants war berechtigt, für jeden Warrant entweder eine physische Abwicklung oder die Zahlung des Barabwicklungsbetrags vom Emittenten zu verlangen. Das Ausübungsrecht wurde automatisch am Ablaufdatum, dem 8. Dezember 2015, ausgeübt. Die Barabwicklung war anwendbar, es sei denn, alle Bedingun...