Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung für Steuerschulden; Grundsatz der anteiligen Tilgung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Verrechnung von Forderungen einer Steuerschuldnerin ist als Tilgungsleistung anzusehen. Denn wie eine Zahlung führt auch die Verrechnung zur Erfüllung von Forderungen.
2. Ein gesetzlicher Vertreter handelt nicht pflichtwidrig, wenn er die Entrichtung fälliger Steuern unterlässt, weil hierzu keine finanziellen Mittel vorhanden sind. Jedoch darf er in Kenntnis der Unzulänglichkeit der evtl. noch vorhandenen Zahlungsmittel keinen Gläubiger einseitig bevorzugen, vielmehr ist von ihm zu verlangen, dass er eine möglichst gleichmäßige Befriedigung sämtlicher Gläubiger sicherstellt.
Normenkette
AO §§ 34, 69
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob ein Haftungsbescheid von der Vollziehung auszusetzen ist.
Im Jahr 2006 wurde die X GmbH (im Folgenden: Steuerschuldnerin) gegründet (Amtsgericht B, HRB xxx1). Geschäftsführer waren zunächst die Antragstellerin und I E und ab dem Jahr 2013 die Antragstellerin und L N. Mit Beschluss vom xx.07.2014 verlegte die Steuerschuldnerin ihren Sitz nach O (Amtsgericht O, HRB xxx2) und firmierte als Y GmbH. L N wurde ebenfalls am xx.07.2014 als Geschäftsführer abberufen. Der Ort der Geschäftsleitung blieb in P.
Die Antragstellerin war ferner geschäftsführende Gesellschafterin der A GbR ([…]) und der Z GmbH (zuletzt HRB xxx3, Amtsgericht F).
Im Zusammenhang mit der Errichtung eines … in O erbrachte die A GbR verschiedene Planungsleistungen, aus welchen sie Vergütungsansprüche gegenüber der Steuerschuldnerin und der Z GmbH herleitete (Bl. 21 GA 4 V 2187/23). Die Steuerschuldnerin machte Gegenansprüche gegenüber der A GbR geltend (Bl. 13 GA 4 V 2187/23). Ab 2013 kam es zu Verrechnungen zwischen den Gesellschaften. So verrechnete die – durch die Antragstellerin vertretene – A GbR gegenüber der Steuerschuldnerin eine Abschlagforderung in Höhe von 390.000 EUR mit „Entnahmen der Gesellschafter W M und L N” in Höhe von 385.858,27 EUR (Schreiben vom 04.02.2013), eine Forderung in Höhe von 138.568,20 EUR mit Verbindlichkeiten der Steuerschuldnerin (Schreiben vom 31.03.2018) und eine Forderung in Höhe von 1.375.476,51 EUR mit einer Forderung der Steuerschuldnerin gegenüber der T GmbH in Höhe von 35.143,95 EUR (Schreiben vom 31.03.2018, Bl. 2, 12 und 17 GA 4 V 2187/23).
Die – durch die Antragstellerin vertretene – Steuerschuldnerin verrechnete eine Forderung in Höhe von 5.337,38 EUR mit einer Gegenforderung der U GmbH sowie eine Forderung in Höhe von 32.603,24 EUR mit einer Gegenforderung der A GbR (Schreiben vom 31.03.2018, Bl. 9 und 13 GA 4 V 2187/23). Außerdem vereinbarten die A GbR und die Steuerschuldnerin die Stundung einer Forderung der A GbR in Höhe von 1.375.476,51 EUR (Schreiben vom 29.12.2017, Bl. 7 GA 4 V 2187/23). Die Z GmbH vereinbarte mit der Steuerschuldnerin, dass die Forderungen der Z GmbH in Höhe von 393.988,01 EUR größtenteils verjährt seien und nicht mehr geltend gemacht werden (Vereinbarung vom 23.08.2018, Bl. 19 GA 4 V 2187/23).
Im März 2023 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zu einer Inhaftungnahme für Steuerschulden der Steuerschuldnerin unter Beifügung des Berechnungsbogens zur Ermittlung der Haftungssumme (Berechnungsbogen) an.
Nachdem die Antragstellerin mehrfach unter Hinweis auf ihre Krebserkrankung Fristverlängerung beantragt hatte, nahm der Antragsgegner die Antragstellerin mit Haftungsbescheid vom 12.10.2023 nach §§ 34, 69 der Abgabenordnung – AO – in Höhe von insgesamt 193.167,59 EUR in Haftung. Eine schuldhafte Pflichtverletzung der Antragstellerin sei darin zu sehen, dass sie die Umsatzsteuer 2013 und die Körperschaftsteuer 2020 nicht entrichtet habe. Da keine außergewöhnlichen Umstände gegen den Erlass eines Haftungsbescheides ersichtlich seien, sei der Erlass eines Haftungsbescheides ermessensgerecht. Ein Auswahlermessen sei nicht auszuüben, da für den Haftungszeitraum ab dem 08.01.2015 keine weiteren Haftungsschuldner in Betracht kommen. Die Haftungssumme für den Haftungszeitraum vom 08.01.2015 (früheste Fälligkeit) bis zum Erlass des Haftungsbescheides am 12.10.2023 setzte sich – ausweislich des angefügten Kontoauszugs – wie folgt zusammen:
Steuerart |
Zeitraum |
Fällig |
Betrag |
Säumniszuschlag |
KSt |
2020 |
31.10.2022 |
18.367,00 |
2.202,00 |
SolZ KSt |
2020 |
31.10.2022 |
1.010,18 |
120,00 |
USt |
2013 |
08.01.2015 |
53.709,28 |
66.002,50 |
USt |
2013 |
23.11.2017 |
27.863,13 |
19.773,50 |
USt Zinsen |
2013 |
23.11.2017 |
4.120,00 |
– |
Summe |
|
|
105.069,59 |
88.098,00 |
Gesamtsumme |
|
|
193.167,59 |
|
Die Antragstellerin legte Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Sie machte geltend, dass sie keine anderen Gläubiger bevorzugt befriedigt habe. Die Steuerschuldnerin habe über keine liquiden Mittel verfügt. Es seien lediglich Verrechnungen vorgenommen worden. Zum Nachweis legte die Antragstellerin Verrechnungsvereinbarungen, einen Kontoauszug der Bank B mit einem Endsaldo zum 31.08.2015 von 0 EUR, betriebswirtschaftliche Auswertungen der Steuerschuldnerin für die Jahre 2015 bis 2022 sowie den ausgefüllte...