Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung nicht bezogenen ausländischen Kindergelds
Leitsatz (redaktionell)
1) Auf das nach §§ 62 ff. EStG zu gewährende Kindergeld ist keine Anrechnung nur fiktiven, nicht tatsächlich gezahlten niederländischen Kindergelds vorzunehmen.
2) Die nach nationalem Recht in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG angeordnete Anrechnung wird durch das Unionsrecht verdrängt.
Normenkette
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; VO Nr. 883/2004 Art. 68 Abs. 1; EStG §§ 62 ff
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kindergeld ab Mai 2010 und zwar für das Kind U bis einschließlich Juni 2012 und für das Kind K bis einschließlich September 2012.
Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie wohnte im Streitzeitraum gemeinsam mit ihren beiden Kindern U (geb. 00. 00 19xx) und K (geb. 00. 00 19xx) sowie dem niederländischen Vater der Kinder, Herrn S I, in Deutschland. Sowohl die Klägerin als auch der Vater der Kinder gingen einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Zahnärzte nach, die sie ausschließlich in den Niederlanden ausübten. Die Klägerin war ferner im Streitzeitraum Mitglied im Rat der Gemeinde J (§ 18 des Einkommensteuergesetzes – EStG –). Der Vater der Kinder hatte sein Einverständnis mit der Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin erklärt.
Mit (neuerlichem) Kindergeldantrag vom 24. April 2012 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie seit 2002 in den Niederlanden eine selbständige Tätigkeit ausübe.
Daraufhin fragte die Beklagte mit Schreiben vom 17. Januar 2013 bei der Sociale Verzekeringsbank (SVB) in den Niederlanden an, wie hoch das niederländische Kindergeld bei rechtzeitiger Antragstellung gewesen wäre.
Mit Bescheid vom 15. März 2013 änderte die Beklagte die für die Kinder U und K bestehenden Kindergeldfestsetzungen betreffend den Zeitraum von Mai 2010 bis Dezember 2012 gem. § 70 Abs. 2 EStG gegenüber der Klägerin auf Differenzkindergeld ab, weil aufgrund der nunmehr bekannt gewordenen Erwerbstätigkeit in den Niederlanden ein – unionsrechtlich vorrangiger – Kindergeldanspruch bestehe. Hinsichtlich der Berechnung der Differenzbeträge wird auf den Bescheid Bezug genommen.
Gegen die Änderung wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch.
Nachdem die Klägerin (und der Vater der Kinder) zunächst in den Niederlanden keinen Antrag auf niederländisches Kindergeld gestellt und solches auch nicht bezogen hatten, stellte die Klägerin am 31. Oktober 2013 einen solchen Antrag. Aus einer späteren Mitteilung der SVB gegenüber der Beklagten (Schreiben vom 25. September 2014) ergibt sich, dass Familienleistungen höchstens ein Jahr rückwirkend erfolgen und der Klägerin daher ab 1. Oktober 2012 niederländisches Kindergeld gewährt worden ist.
In der Einspruchsentscheidung vom 4. September 2014 änderte die Beklagte den Bescheid im Hinblick auf den Umfang der zurückzuerstattenden Leistungen für den Zeitraum vom Mai 2010 bis Mai 2012 ab und wies den Einspruch im Hinblick auf die Gewährung nur von Differenzkindergeld im Kern mit der Begründung des Änderungsbescheides vom 15. März 2013 als unbegründet zurück.
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Gewährung vollen deutschen Kindergeldes. Da weder sie noch der Vater der Kinder in den Niederlanden für den Streitzeitraum tatsächlich einen Kindergeldantrag gestellt hätten, könne solches auch nicht angerechnet werden. Die Klägerin sei auch zu keinem Zeitpunkt auf eine Antragstellung in den Niederlanden hingewiesen worden. Im Übrigen wird auf das Vorbringen der Klägerin Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 15. März 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4. September 2014 insoweit aufzuheben, als der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen wird.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung.
Der Berichterstatter hat die Sache am 4. Mai 2016 mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erörtert. Auf das Terminsprotokoll wird Bezug genommen.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die angefochtenen Änderungsbescheide und die Einspruchsentscheidung sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Klägerin steht für den Streitzeitraum unvermindertes Kindergeld zu.
1. Die in Deutschland wohnende Klägerin erfüllt in Bezug auf ihre beiden im Streitzeitraum noch minderjährigen Kinder die national-rechtlichen Anforderungen an die Gewährung von Kindergeld (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Das bedarf keiner näheren Darlegung und ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten. Hinsichtlich des Streitzeitraums wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 4. Mai 2016 Bezug genommen.
2. Eine Anrechnung niederländischen Kindergeldes kommt aus unionsrechtlichen Gründen nicht in Betracht.
a) Im Streitfall ist die seit Mai 2010 – und damit im Streitzeitraum – geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Euro...