Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Gehilfenhaftung
Leitsatz (redaktionell)
1) Wer erbrachte Leistungen über Barverkaufsrechnungen abwickelt und dadurch zur Steuerhinterziehung des Leistungsempfängers Beihilfe leistet, haftet für die hinterzogene Steuer. Einer näheren Darlegung zur Ausübung des Entschließungsermessens bedarf es regelmäßig nicht.
2) Es ist regelmäßig nicht notwendig, zur Höhe der Haftungsinanspruchnahme gesonderte Ermessenserwägungen anzustellen. Das Finanzamt ist vielmehr gehalten, den Gehilfen für den gesamten vom Gehilfenvorsatz abgedeckten Steuerschaden in Haftung zu nehmen. Dieses gilt unabhängig vom Grad des (Mit-)Verschuldens des Gehilfen und der Höhe des von ihm erzielten wirtschaftlichen Vorteils (gegen FG Münster vom 11.12.2001 - 1 K 3310/98 und 1 K 3470/98).
Normenkette
AO 1977 § 191 Abs. 1, 1 S. 1, § 5; StGB § 27 Abs. 1; AO 1977 § 71
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheide gem. § 191, § 71 der Abgabenordnung (AO) wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung.
Der Kläger (Kl.) ist Diplomkaufmann. 1987 erwarben er und die Herren K1 sowie T2 den bis dahin von dem Kaufmann Q. geführten Großhandelsbetrieb mit Lebensmitteln für asiatische Restaurants. Sie führten das Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH & CO KG unter der Firma G1-GmbH & CO KG (im Folgenden: KG) fort. Geschäftsführer der KG wurde P. (im Folgenden: P.), der das Bäckerhandwerk erlernt und 1962 die Meisterprüfung abgelegt hatte, später als Handelsreisender für Lebensmittelprodukte und als Niederlassungsleiter tätig gewesen war und 1987 in den Dienst des Kaufmanns Q. eingetreten war. P. war im operativen Bereich (Vertrieb und Kundenbetreuung) der KG tätig. Komplementärin der KG war die G2 Verwaltungs-GmbH. Deren Geschäftsführer waren der Kl. und – formal – auch K1, der aber tatsächlich in anderen Bereichen der sog. K1 – Firmengruppe, zu der auch noch andere Unternehmen gehörten, tätig war. Kommanditisten der KG waren zunächst der Kl., K1 und T2. 1988 wurde P. als weiterer Kommanditist in die KG aufgenommen. Der Kl. war ferner Geschäftsführer und kaufmännischer Leiter der K1 Fleischwarenvertriebs-GmbH (im Folgenden K2) mit Sitz in I. Die K2 führte einen Teil der Buchhaltung der KG durch, für deren kaufmännischen Bereich (finanzielle, buchhalterische und steuerliche Angelegenheiten) der Kl. tätig war. Die Debitorenbuchungen nahm die KG vor; die weitere Buchhaltung – u. a. die Verbuchung des Zahlungsverkehrs und die Erstellung der Jahresabschlüsse – erfolgte durch K2.
Von der KG bezog u. a. der Betreiber des China-Restaurants „I.” in Q., Herr M. (im Folgenden: M.) Ware. Bei seinen Bestellungen gab er – wie zahlreiche andere Kunden der KG auch – an, über welche Waren er eine Rechnung mit seinem vollen Namen und Adresse wünschte und über welche Waren eine Barverkaufsrechnung ohne Namen und Adresse ausgestellt werden sollte. Die KG nahm die Bestellungen mittels eines Formulars an, in dem die Ware getrennt nach Lieferung auf ordnungsgemäße Rechnung mit Empfängernamen und Lieferung auf nicht ordnungsgemäße Barverkaufsrechnung notiert wurde. Zu diesem Zweck waren in dem Formular hinter der jeweiligen Artikelnummer und der Bezeichnung der Ware zwei Spalten vorhanden. In der ersten Spalte waren die Warenbestellungen zu notieren, für die der Kunde später eine vollständige Rechnung erhielt, in der zweiten Spalte die Lieferung mit Barverkaufsrechnung ohne Angabe des Empfängers. Entsprechend der Bestellung wurde dann von der KG ein Rechnungssplittung durchgeführt. Die Rechnungen mit ordnungsgemäßer Kundenanschrift wurden auf dem Kundenkonto, die nicht ordnungsgemäßen Barverkaufsrechnungen über ein anonymes Sammelkonto verbucht. Intern ordnete die KG die ohne Namen und Adresse des Kunden ausgestellten Barverkaufsrechnungen anhand einer Kundennummer, die auf die Durchschrift der Barverkaufsrechnung gesetzt wurde, diesem wieder zu. Das Kundennummernsystem wurde in den Jahren 1988 bis 1992 mehrfach geändert. Von 1988 bis Anfang 1990 wurde auf der Durchschrift der Barverkaufsrechnung die Kundennummer handschriftlich vermerkt. Teilweise wurden die Nummern 88/89 hinzugefügt. Diese Nummern bezeichneten interne Barverkaufskonten, über welche die Barverkaufsrechnungen zunächst verbucht wurden. Von Anfang 1990 bis Mitte 1993 wurde in den Barverkaufsrechnungen im Anschriftenfeld das Bestelldatum und die Kundennummer vermerkt. Ab Mitte 1993 wurde für jeden Kunden eine eigene Barverkaufsnummer vergeben. Der Kundennummer wurde die Zahl 65 vorangestellt. Für M. wiesen die Barverkaufsrechnungen die Kundennummer 65078 aus. Das Rechnungssplitting war auch bereits praktiziert worden, als das Unternehmen der KG noch von Q. geführt worden war.
Im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung (STRAFA-FA) bei der KG wurde der Entwurf eines Schreibens an alle Kunden vorgefunden. Das Schreiben datiert mit „im Januar 1990”, nimmt Bezug auf Barverkaufsrechnungen und hat folgenden Wortlaut: „Wir bitte...