Entscheidungsstichwort (Thema)
Heilung der sachlichen Unzuständigkeit des sog. Inkasso-Service
Leitsatz (redaktionell)
Die sachliche Unzuständigkeit des sog. Inkasso-Service bei Ablehnung eines Stundungsantrags wird nicht dadurch geheilt, dass die sachlich und örtlich zuständige Familienkasse die Einspruchsentscheidung erlässt.
Normenkette
AO §§ 126-127, 16; FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11; AO § 125
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Stundung von Beträgen, die sich aus der Rückforderung von überzahltem Kindergeld ergeben.
Die damals zuständige Familienkasse O forderte mit Bescheid vom 15.07.2015 das der Klägerin aufgrund ihres Abzweigungsantrags ausgezahlte Kindergeld für die Zeit von Dezember 2013 bis März 2015 zurück, nachdem die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Mutter der Klägerin aufgehoben worden war. Der von der Klägerin gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 08.12.2015 als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte (die Agentur für Arbeit S – Inkasso-Service –) lehnte mit Bescheid vom 06.11.2018 den von der Klägerin unter dem 16.10.2018 gestellten Antrag auf Stundung der (Rest-)Forderungen in Höhe von 753,– EUR (724,– EUR Kindergeld und Säumniszuschläge in Höhe von 29,– EUR) ab. Die Voraussetzungen für eine Stundung lägen nicht vor. Eine Stundungsbedürftigkeit sei nicht gegeben, da die Klägerin ihren Lebensunterhalt von unpfändbarem Einkommen (Bezug von Leistungen nach dem SGB II und BAföG) bestreite und davon auszugehen sei, dass sie nicht nur vorübergehend in ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gemindert sei.
Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid am 06.12.2018 Einspruch ein. Die Umstände, insbesondere der Bezug von BAföG für eine Ausbildung, würden dafür sprechen, dass sich ihre Lebensverhältnisse verbessern würden. Jedenfalls werde durch die begehrte Stundung die gegebenenfalls existierende Gefährdung der Forderung nicht verstärkt. Die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 08.03.2019 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat am 05.04.2019 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie unter anderem vor: Soweit die Gefährdung der Forderung als Argument angeführt werde, vermöge dieses nicht zu überzeugen. Eine Stundung verstärke die Gefährdung der Forderung nicht. Die Gefährdung könne nur dann ein Argument sein, wenn bei einem zum Zeitpunkt der Stundung zahlungsfähigen Schuldner zu befürchten sei, dass bei dem Ablauf der Stundung die Zahlungsfähigkeit nicht mehr gegeben sei und die ursprünglich durchsetzbare Forderung nicht mehr durchsetzbar sei. Bei einem zahlungsunfähigen Schuldner könne es jedoch nicht zu einer Forderungsgefährdung kommen. Auch hinsichtlich der Stundungswürdigkeit werde der Sachverhalt fehlerhaft gewertet. Es seien gerade nicht alle Gesamtumstände des Einzelfalls gewürdigt worden.
Das Klageverfahren ruhte zunächst im Hinblick auf das BFH-Verfahren III R 21/18 (vgl. BFH-Urteil vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457).
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 06.11.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 08.03.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Restforderung aus dem Rückforderungsbescheid vom 15.07.2015 zu stunden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Beteiligten haben gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
II. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit S – Inkasso-Service – als Beklagte richtet.
Dass die Klägerin in ihrer Klageschrift die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A als Beklagte bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen, denn die Klageerhebung als Prozesshandlung ist im Zweifel gemäß §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen. Eine solche Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Dabei ist davon auszugehen, dass ein Kläger eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte; dies ist hier die Agentur für Arbeit Inkasso-Service.
Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen diejenige Behörde zu richten, die – wie vorliegend die Beklagte – den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen” Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte i.S.d. § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, S. 712, Schallmoser in Hübs...