Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Haftung eines Geschäftsführers nach rechtskräftiger Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: VII R 4/23)
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Finanzgericht hat gemäß § 76 FGO Feststellungen dazu zu treffen, ob Anlass zur Begründung eines Auswahlermessens durch die Behörde bestanden hätte, etwa weil neben dem in Haftung genommenen Steuerpflichtigen ein weiterer Haftungsschuldner in Betracht kommt. Diesbezüglich kommt es auf die Sachlage an, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung festgestellt wird und nicht – wie bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung – auf die Umstände an, wie sie sich im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dargestellt haben. Einem Haftungsbescheid wird – ausnahmsweise – der Boden entzogen, wenn das Klageverfahren im Rahmen der Prüfung des Haftungstatbestandes zu anderen Grundlagen der Ermessensentscheidung führt und diese tatsächlichen oder rechtlichen Erkenntnisse eine dem Steuerpflichtigen günstigere Ermessensentscheidung ermöglichen. Dies gilt selbst dann, wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen ist (Anschluss an BFH-Rechtsprechung).
2. Die Bestellung eines zunächst wirksam bestellten Geschäftsführers verliert u.a. ihre Wirkung, sobald dieser gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Buchst. a GmbHG wegen Insolvenzverschleppung (hier: in Gestalt der nicht rechtzeitigen Stellung eines Insolvenzantrags) verurteilt worden ist; das Amt des Geschäftsführers endet kraft Gesetzes von selbst mit dem Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung. Dies gilt unbeschadet dessen, dass grundsätzlich beim Wegfall des Geschäftsführersamtes ggf. zivilrechtlich ein Gutglaubensschutz nach § 15 HGB oder allgemeine Rechtsscheingrundsätze eingreifen können.
3. Die im Rahmen der Haftungsbegründung von der Finanzbehörde anzustellende Ermessensentscheidung ist fehlerhaft, wenn die Behörde das objektiv bestehende Auswahlermessen nicht erkannt hat bzw. nicht um die Notwendigkeit einer Auswahlentscheidung wusste, sondern davon ausgegangen ist, dass der Betroffenen alleiniger Haftungsschuldner ist (hier: nachträgliche Erkenntnis des Wegfalls der Stellung des Betroffenen als gesetzlicher Vertreter infolge rechtskräftiger Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung).
4. Die (Auswahl-)Ermessensentscheidung muss sich auf den jeweiligen Einzelfall beziehen und kann nicht etwa durch den Hinweis auf weitere potentielle Haftungsschuldner vorweggenommen werden. Eine Auswahlentscheidung kann auch weder im Wege der Ergänzung vollständig nachgeholt noch pauschal dergestalt begründet werden, dass der Betroffene jedenfalls auch dann in Anspruch genommen werden würde, wenn andere Haftungsschuldner existieren würden.
Normenkette
AO §§ 69, 191 Abs. 1; FGO §§ 76, 102; GmbHG § 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, § 35 Abs. 1; AO § 34 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Streitig ist die Haftungsinanspruchnahme des Klägers u.a. wegen Umsatzsteuerrückständen einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH).
Der Kläger war seit dem 31.01.2014 Geschäftsführer u.a. der J1 GmbH (im Folgenden: GmbH; Handelsregister HRB XXX des Amtsgerichts B-Stadt, Eintragung vom xx.xx.2014), einer … in N-Stadt. Allein-Gesellschafter der GmbH war seit dem Jahr 2014 Herr K. T.-M.. Auf die – für die Haftungsinanspruchnahme relevanten – die GmbH betreffenden Umsatzsteuer(vorauszahlungs)bescheide wird Bezug genommen (Bl. 168 ff. der Gerichtsakte). Der Kläger war darüber hinaus zeitweise auch Geschäftsführer der J2 GmbH, deren Steuerrückstände wegen er ebenfalls in Haftung genommen war (Verfahren zum Aktenzeichen 4 K 1241/20).
Weil der Kläger die finanziellen Schwierigkeiten der GmbH bewusst verschwiegen hatte, erging ihm gegenüber unter dem Aktenzeichen X Cs xxx Js x/x (xx/xx) des Amtsgerichts N-Stadt am xx.10.2016 ein Strafbefehl wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 4 der Insolvenzordnung (InsO). Der Strafbefehl wurde – ausweislich des Rechtskraftvermerks (Bl. 413 der Gerichtsakte) – am 05.11.2016 rechtskräftig. Ferner verurteilte ihn das Amtsgericht N-Stadt im Verfahren X Cs-yyy Js x/y-yy/y am 22.02.2018 wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 4 InsO (Rechtskraft am 22.02.2018), nachdem der Kläger den Einspruch gegen den zuvor ergangenen Strafbefehl vom 07.07.2017 auf die Rechtsfolgen beschränkt hatte (Bl. 417 f. der Gerichtsakte).
Zum 31.10.2018 wurde das Gewerbe der GmbH abgemeldet. Der Gewerbebetrieb wurde endgültig eingestellt.
Nachdem ein erster, durch den Kläger gestellter Insolvenzantrag für die GmbH vom 23.11.2018 mangels Glaubhaftmachung der Zahlungsunfähigkeit als unzulässig abgelehnt worden war, stellte der Kläger unter dem 15.02.2019 einen erneuten Eröffnungsantrag. Das Amtsgericht B-Stadt leitete daraufhin über das Vermögen der GmbH das Insolvenzeröffnungsverfahren ein (Aktenzeichen Y IN x/19) und gab ein Insolvenzgutachten in Auftrag; ein vorläufiger Insolvenzverwalter wurde nicht bestellt. Danebe...