Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldauszahlung an das Kind
Leitsatz (redaktionell)
1) Einem volljährigen auswärts lebenden Kind ist Unterhalt regelmäßig durch eine Geldrente zu leisten. Nur ausnahmsweise kann der Unterhaltsverpflichtete bei Vorliegen besonderer Gründe auch gegenüber einem volljährigen Kind verlangen, Unterhalt in anderer Weise - insbesondere durch Naturalunterhalt - zu gewähren.
2) Der Zweck des § 74 Abs. 1 EStG liegt darin, dass dann, wenn der Kindergeldberechtigte keine Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes trägt, das Kindergeld nicht ihm, sondern entweder dem Kind oder aber demjenigen zugute kommen soll, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt.
3) Analog § 74 Abs. 1 AO besteht grundsätzlich die Möglichkeit, Kindergeld u.a. an das Kind selbst auszuzahlen, wenn der Kindergeldberechtigte - unabhängig von der Frage der Verletzung seiner etwaigen Unterhaltspflicht - tatsächlich keinen Unterhalt leistet.
4) Ein Kindergeldberechtigter kommt seiner Unterhaltspflicht nicht nach, wenn er objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufkommt. Auf die Gründe für die Nichterfüllung kommt es nicht an.
5) Für das Rechtsfolgeermessen der Familienkasse in § 74 Abs. 1 EStG tritt bei einem volljährigen auswärts lebenden Kind, für das der Kindergeldberechtigte keinen Unterhalt leistet, eine Ermessensreduzierung auf Null dahingehend ein, dass allein eine Auszahlung des festgesetzten Kindergelds an das Kind ermessensfehlerfrei ist.
Normenkette
BGB § 1612 Abs. 1; EStG § 74
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte (Familienkasse – FK –) es zu Recht abgelehnt hat, das an die Mutter des Klägers (Kl.) gezahlte Kindergeld an den Kl. gemäß § 74 Einkommensteuergesetz (EStG) abzuzweigen.
Die Kindesmutter TT, geb. TD, geb. am 00.00.0000, hat am 00.00.0000 (damals noch ledig) den Sohn ND (Kläger – Kl. –) geboren. Der Kindesvater BT, geb. am 00.00.0000, ist im Juli 1994 gestorben.
TT hat am 00.00.0000 Herrn NT (NT), geb. am 00.00.0000, geheiratet. Sie wohnen seit Januar 1988 in einer Wohnung des Achtfamilienhauses in der A-Str. 15, 00000 I.
NT hatte laut Kindergeldakte noch bis 1993 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit: 19.841 DM (1991), 21.223 DM (1992) und 12.602 DM (1993). TT hatte keine eigenen Einkünfte.
Danach bezog NT vom Arbeitsamt I (jetzt Agentur für Arbeit I) unter der Stammnr. 000 000 jedenfalls für die Jahre 1994 und 1995 Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Die Eheleute TT und NT haben außerdem zwei gemeinsame Kinder: K, geb. am 00.00.0000, und M, geb. am 00.00.0000, die mit ihnen in ihrer Dreizimmerwohnung leben. Sie erhalten für ihre drei Kinder Kindergeld.
Nach Beendigung seiner Schulzeit in der Gemeinschaftshauptschule in der Stadt I begann der Kl. am 01.08.2002 eine Berufsausbildung als Tankwart, die er im September 2002 abbrach.
Ab dem 01.09.2003 begann er mit einer Berufsausbildung als Gas- und Wasserinstallateur, die bis 28.02.2007 dauern sollte. Er erhielt monatlich eine Brutto-Ausbildungsvergütung in Höhe von 475 EUR (ab 01.09.2003), 486 EUR (ab 01.09.2004), 531 EUR (ab 01.09.2005) und 586 EUR (ab 01.09.2006). Außerdem erhielt er halbjährlich Sonderzuwendungen, die sich zwischen 120 EUR (November 2003) und 293 EUR (November 2006) bewegten.
Das Ausbildungsvertragsverhältnis endete aufgrund einer schriftlichen Kündigung des Arbeitgebers vom 10.11.2006 mit Ablauf des 31.12.2006.
Der Kl. stellte am 01.10.2004 bei der Familienkasse der Beklagten (Bekl.) den Antrag auf Auszahlung des anteiligen Kindergeldes an ihn selbst.
Nachdem dieser Antrag mit Bescheid im Februar 2005 abgelehnt worden war, stellte der jetzige Prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt U diesen Antrag am 01.07.2005 erneut. Zur Begründung trug der Kl. vor, er sei 21 Jahre alt und befinde sich noch in der Ausbildung. Er lebe in einer eigenen Wohnung im selben Mietshaus wie seine Mutter. Seine Mutter sei nicht in der Lage gewesen und sei auch jetzt nicht in der Lage, ihren gesetzlichen Unterhaltspflichten nachzukommen. Die Zahlung des Kindergeldes könne gemäß § 74 Einkommensteuergesetz (EStG) an ihn erfolgen.
Aus dem beigefügten Mietvertrag vom 10.06.2004 ergibt sich, dass der Kl. ab dem 15.08.2004 in dem Achtfamilienhaus A-Str. 15 die Zweizimmerwohnung Nr. 5 im Dachgeschoss zum monatlichen Mietpreis von 200 EUR zzgl. 80 EUR Betriebskostenvorauszahlung gemietet hat. Laut beigefügtem Rentenbescheid vom 08.03.2004 erhielt er monatlich eine Rente in Höhe von 129,24 EUR. Laut des Bescheides der Bekl. vom 06.10.2004 erhielt er außerdem vom 01.08.2004 bis 31.01.2006 monatlich eine Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von 106 EUR.
Auf Aufforderung der Bekl. reichte der Kl. am 13.10.2005 das ausgefüllte Formular „Antrag auf Auszahlung des anteiligen Kindergeldes” ein. Er gab darin u. a. an, dass sein Vater verstorben sei und die Mutter keinen Unterhalt für ihn leiste.
Mit Schreiben vom 17.11.2005 gab die Bekl. der Kindesmutter TT Gelegenheit, sich zu dem Antrag ihres Sohnes zu äußern. In dem beigefügten Formular-Antwortschreiben teilte TT ...