Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine verlängerte Festsetzungsfrist bei Kenntnis der Steuerdaten seitens der Finanzbehörde. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: VI R 14/22)
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Festsetzungsfrist verlängert sich bei leichtfertiger Steuerverkürzung auf fünf und bei Steuerhinterziehung auf zehn Jahre.
2. Eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen scheidet aus, wenn die Finanzbehörde bei Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis hat.
3. Ein Steuerpflichtiger kann die Finanzbehörde nicht in Unkenntnis lassen, wenn sie tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist.
4. Dem Veranlagungs-Finanzamt ist bekannt, dass verheiratete Steuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezogen und beim Lohnsteuerabzug die Lohnsteuerklassen III und V gegolten haben, wenn die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen der Eheleute mit deren gemeinsamer Steuernummer verknüpft und in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen im Datenverarbeitungsprogramm des Finanzamts erfasst und dort abrufbar sind.
Normenkette
AO § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, S. 2, § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 370 Abs. 1 Nr. 2, §§ 378, 169 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob hinsichtlich der Einkommensteuer für 2009 und 2010 eine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vorliegt und demzufolge nicht die regelmäßige, sondern eine verlängerte Festsetzungsfrist gilt.
Die Kläger sind verheiratet. Bis einschließlich 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Lohnsteuerabzug erfolgte über die Steuerklasse III. Die Kläger reichten regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Sie wurden zusammen veranlagt. Der Beklagte speicherte den Steuerfall der Kläger in seinem Datenverarbeitungsprogramm als Antragsveranlagung ab.
Ab 2009 erzielte nicht nur der Kläger, sondern auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin über die Steuerklasse III, derjenige der Klägerin über die Steuerklasse V. Die Arbeitgeber der Kläger übermittelten dem Beklagten die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für die Kläger und die Jahre 2009 und 2010. In dem Datenverarbeitungsprogramm des Beklagten wurden diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen erfasst und waren dort abrufbar. Außerdem händigten die Arbeitgeber der Kläger den Klägern einen Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus. Auf diesen war schriftlich vermerkt, dass die Daten der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
Die Kläger reichten ab 2009 keine Steuererklärungen mehr ein. Der Steuerfall der Kläger blieb in dem Datenverarbeitungsprogramm des Beklagten weiterhin als Antragsveranlagung gespeichert. Der Beklagte versandte an die Kläger keine Aufforderungen zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen. Er schloss die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95 %) für 2009 am 31.03.2011 und für 2010 am 31.03.2012 ab.
Anfang 2018 bearbeitete der Beklagte eine durch die Oberfinanzdirektion übersandte eDaten-Prüfliste. Hierbei fiel auf, dass mit der Aufnahme der nichtselbständigen Tätigkeit durch die Klägerin in 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher ab 2009 verpflichtet waren, Einkommensteuererklärungen einzureichen.
Hierauf leitete das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung J-Stadt ein Strafverfahren hinsichtlich der Jahre 2011 bis 2016 ein. Für die Streitjahre 2009 und 2010 wurde kein Strafverfahren eingeleitet, da insoweit von einer strafrechtlichen Verjährung ausgegangen wurde. Das Strafverfahren für die Jahre 2011 bis 2016 wurde gegen Zahlung einer Geldauflage i. H. v. … € (je Kläger … €) eingestellt.
Am 08.06.2018 erließ der Beklagte Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010. Die Einkommensteuerfestsetzungen betrugen für 2009 … € und für 2010 … €. Die Verspätungszuschläge setzte der Beklagte mit … € für 2009 und … € für 2010 fest. In den Erläuterungen führte er aus, dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden seien. Die Kläger hätten trotz Aufforderung keine Steuererklärungen abgegeben. Die Verspätungszuschläge seien wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen festgesetzt worden.
Hiergegen legten die Kläger Einsprüche ein. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus, dass für 2009 und 2010 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Sie, die Kläger, hätten sich nicht wegen vollendeter Steuerhinterziehung strafbar gemacht. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt. Hinweise auf eine Steuererklärungspflicht hätten sie nicht zur Kenntnis genommen. Im Übrigen hätte der Beklagte keine jährlichen Aufforderungsschreiben an die Kläger ...