Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld bei Grundsicherungsleistungen durch den Sozialleistungsträger
Leitsatz (redaktionell)
1) Eine Abzweigung nach § 74 EStG setzt nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht schuldhaft nicht erfüllt.
2) Insoweit ist es in den Fällen der Gewährung von Leistungen nach dem III. Kapitel SGB XII unerheblich, dass die (teilweise) Nichterfüllung der Unterhaltspflicht darauf beruht, dass der Übergang des Unterhaltsanspruchs kraft der gesetzlichen Regelung des § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII auf die Heranziehung eines geringen Kostenbeitrags beschränkt ist.
3) Eine Abzweigung ist im Rahmen der Ermessensentscheidung der Familienkassen unzulässig, wenn der Kindergeldberechtigte für ein behindertes Kind, das vom Sozialleistungsträger Grundsicherungsleistungen bezieht, Aufwendungen mind. in Höhe des Kindergeldes trägt.
4) In die Berechnung sind auch eigene Betreuungsleistungen für das Kind einzubeziehen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Notwendigkeit der Betreuung und deren Durchführung konkret dargelegt und glaubhaft gemacht wird.
Normenkette
FGO § 102; SGB XII § 94; EStG § 74
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte (Bekl) den Antrag der Klägerin (Klin) auf Abzweigung von Kindergeld gemäß § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) zu Recht abgelehnt hat.
Die Beigeladene (Beigel) erhält für ihren am 1991 geborenen Sohn A Kindergeld. Für A ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „B”, „G” und „H” festgestellt. Er befindet sich aufgrund eines angeborenen Herzfehlers in ambulanter Behandlung in einer kardiologischen Ambulanz einer Klinik in O. Die Beigel begleitet ihren Sohn zu den Behandlungsterminen.
A lebt im Haushalt der Beigel. und wird von dieser dort betreut und versorgt.
Die Klin leistete an den Sohn der Beigel fortlaufend Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem III. Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) i. H. v. durchschnittlich 516 EUR monatlich. Neben der Hilfe zum Lebensunterhalt erhielt der Sohn seit März 2010 ein Ausbildungsgeld i. H. v. 62 EUR.
Der Kindesvater wurde zu einem Unterhaltsbeitrag nach § 94 Abs. 2 SGB XII i. H. v. 23,90 EUR monatlich herangezogen, welcher auf die Hilfe zum Lebensunterhalt leistungsmindernd angerechnet wurde.
Die Bekl lehnte den im Februar 2010 gestellten Antrag der Klin auf Abzweigung des Kindergeldes mit Bescheid vom 11. März 2010 ab. Die Zahlung von Kindergeld an die Beigel erfolgte bis einschließlich Februar 2010.
Der gegen die Ablehnung gerichtete Einspruch war erfolglos.
Mit der gegen die Ablehnungsentscheidung gerichteten Klage begehrt die Klin eine Abzweigung des Kindergeldes unter Berücksichtigung des Unterhaltsbeitrags von 23,90 EUR.
Sie macht zur Begründung der Klage im Wesentlichen geltend, dass der gesamte Lebensunterhalt durch die Sozialleistungen sichergestellt sei. Der Regelsatz der Sozialhilfe umfasse u. a. Aufwendungen für Nahrungsmittel, Getränke, Bekleidung, Freizeit, Unterhaltung, Kultur, Gesundheitspflege, Verkehr und Nachrichtenübermittlung.
Zunächst hat die Klin die Ansicht vertreten, dass bei der Abzweigung aus Gründen der Gleichbehandlung nicht behinderter Kindern und behinderter Kinder nur Aufwendungen auf den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu berücksichtigen seien, welche nicht durch die Grundsicherung oder Leistungen anderer Sozialleistungsträger gedeckt seien.
Zu berücksichtigen sei allein der geleistete Unterhaltsbeitrag i. H. v. 23,90 EUR monatlich. Nicht zu berücksichtigen seien dagegen die Aufwendungen für das therapeutische Reiten. Dabei handele es sich nicht um ein verordnungsfähiges Heilmittel. Etwaige Zuzahlungen (Praxisgebühr, Medikamente) führten nach ständiger Rechtsprechung nicht zu einer Erhöhung des Bedarfs. Auch die Kosten einer Brille seien aus den Sozialleistungen zu finanzieren. Soweit die Beigel Aufwendungen für Freizeit und Urlaub geltend mache, werde der Bedarf ebenfalls durch der Hilfe zum Lebensunterhalt gedeckt.
Zuletzt hat die Klin die Ansicht vertreten, dass es auf die von der Beigel geltend gemachten Aufwendungen grundsätzlich nicht ankommen könne. Dies ergäbe sich daraus, dass das Kindergeld der Finanzierung des Existenzminimums diene (Verweis auf BVerfG-Beschluss vom 11. März 2010 1 BvR 3163/09, NJW 2010, 1803 (Nichtannahmebeschluss: Leistungsmindernde Anrechnung von Kindergeld auf das Sozialgeld)). Es müsse zur Sicherung des Existenzminimums eingesetzt werden und nicht für sonstige Bedarfe.
Würde man Aufwendungen der Eltern auf einen sonstigen Bedarf berücksichtigen, würden Eltern mit geringen Einkommen benachteiligt, was gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz verstoße. Für die Abzweigungsentscheidung sei es daher unerheblich, in welcher Höhe von den Kindeseltern Aufwendungen für einen über die Grundsicherung hinaus gehenden Bedarf getragen würden.
Die Klin beantragt,
die Bekl unter Aufhebung des Bescheids vom 11. März 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. Ma...