Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtauflösung einer Rücklage nach § 7g Abs. 3 EStG als nachträglich bekannt gewordene Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO - Zur Frage der Abwägung der Sorgfaltspflichtverletzungen von Finanzamt und Steuerpflichtigen im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Leitsatz (redaktionell)
1. Übertragen auf die Bildung einer Rücklage nach § 7g Abs. 3 EStG ist eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch die Anschaffung eines Wirtschaftsgutes vor dem Schluss des zweiten auf die Bildung der Rücklage folgenden Wirtschaftsjahres sowie der Umstand, dass die Anschaffung des begünstigten Wirtschaftsgutes bis zum zweiten auf die Rücklagenbildung folgenden Wirtschaftsjahr unterblieben ist und deshalb die Rücklage aufzulösen und als Zuschlag zu behandeln ist.
2. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft die Verantwortlichkeit in der Regel den Steuerpflichtigen mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann. Eine Änderungsmöglichkeit scheidet in Fällen beiderseitiger Pflichtverletzungen nur dann aus, wenn der Verstoß des Finanzamtes deutlich überwiegt
3. Genaue Angaben zum Bestand der Wirtschaftsgüter sind auch dann zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 7g Abs. 4 S. 2 EStG erforderlich, wenn bei Keinem Einnahmen-/ Überschussrechner - anders als bei der Bilanzierung - die Rücklage und das Anlagevermögen nicht als Bilanzposten erscheinen, sondern die Rücklage nur im Fall der Bildung als Betriebsausgabe und im Fall der Auflösung als Betriebseinnahme ersichtlich ist und in der Gewinnermittlung sonst nicht erscheint und auch in der Einkommensteuererklärung nicht anzugeben ist. Der Umfang der Mitwirkungspflicht bei einem Steuerpflichtigen, der den Gewinn nach der erleichterten Methode des § 4 Abs. 3 EStG ermittelt, kann nicht geringer sein kann, als bei einem Steuerpflichtigen, der die Gewinnermittlung nach §§ 4 Abs. 1, 5 EStG vornimmt.
4. Zur Frage der Abwägung der Sorgfaltspflichtverletzungen von Finanzamt und Steuerpflichtigen im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1
Nachgehend
BFH (Beschluss vom 21.03.2017; Aktenzeichen III R 22/15) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 und des Gewerbesteuermessbescheids 2002 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gegeben sind.
Einkommensteuer:
Die Kläger sind verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte im Streitjahr Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit, aus nichtselbständiger Arbeit und aus Vermietung und Verpachtung. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb umfassten neben Beteiligungseinkünften auch Einkünfte aus Immobilienvermittlung, Vermögensberatung und sonstigen Vermittlungen. Diese Vermittlungstätigkeit übte der Kläger vom 01.09.1998 bis 31.12.2006 aus. Den Gewinn hieraus ermittelte er durch Einnahme-Überschuss-Rechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG. Seit 2000 war der Kläger zudem als Unternehmensberater freiberuflich tätig und ermittelte diese Einkünfte aus selbständiger Arbeit ebenfalls durch Einnahme-Überschuss-Rechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG.
In den beiden vorgenannten Einnahme-Überschuss-Ermittlungen machte er jeweils im Jahr 2000 bei den Betriebsausgaben eine „Rücklage für künftige Investitionen“ geltend und zwar bei der Vermittlungstätigkeit in Höhe von 185.000 DM und bei der Unternehmensberatung in Höhe von 20.000 DM.
Der Kläger erläuterte die angesetzten Rücklagen wie folgt:
Unternehmensberatung |
Büroeinrichtung |
25.000 DM |
40 % |
10.000 DM |
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Computeranlage + Software |
25.000 DM |
40 % |
10.000 DM |
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20.000 DM |
Finanzierungs-Immobilien-Vermittlung |
Büroeinrichtung |
192.500 DM |
40 % |
77.000 DM |
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Computeranlage + Software (Programme....) |
150.000 DM |
40 % |
60.000 DM |
Kfz |
120.000 DM |
40 % |
48.000 DM |
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185.000 DM |
Das Finanzamt übernahm diese Rücklagen unverändert bei der Veranlagung für das Jahr 2000.
In der Einnahme-Überschuss-Rechnung für 2001 der Immobilien-Verwaltung, Vermögensberatung und sonstigen Vermittlungen waren in den vom Kläger angegebenen Betriebseinnahmen u.a. auch „Erlöse aus der Auflösung von Rücklagen (Existenzgründung)“ in Höhe von 85.000 DM enthalten.
Im Streitjahr 2002 schätzte das Finanzamt mit Einkommensteuerbescheid vom 21.10.2004 zunächst die Besteuerungsgrundlagen; der Bescheid erging unter den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 AO. In der daraufhin abgegebenen Einkommensteuererklärung und in seinen Gewinnermittlungen löste der Kläger die übrigen Rücklagen aus dem Jahr 2000 nicht gewinnerhöhend auf. Er erklärte insoweit nichts. Das Finanzamt übernahm die vom Kläger ermittelten Gewinne aus Gewerbebetrieb und aus selbständiger Arbeit unverändert in den nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheid 2002 vom 09.08.2005. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben.
Am 13.10.2005 und am 03.11.2005 erließ das Finanzamt jeweils nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderte Einkommensteuerbescheide.
Der Kläg...