Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 AO
Leitsatz (amtlich)
Bei dem Bezug einer im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge vereinbarten lebenslangen Versorgungsleistung handelt es sich um einen Dauersachverhalt, dessen Umstände nicht durch eine Archivierung von damit in Zusammenhang stehenden Unterlagen im Keller bzw. im Archiv unbekannt werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerfall wegen eines Wechsels in der Zuständigkeit der Finanzbehörden im sog. aktenlosen Veranlagungsverfahren übernommen wird.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob bestandskräftige Einkommensteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert werden können.
Die im Jahr 1926 geborene Klägerin war bis einschließlich des Jahres 2006 von dem Finanzamt B zur Einkommensteuer veranlagt worden. Im Jahr 2007 verzog die Klägerin in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten, der die Besteuerung der Klägerin ab dem Jahr 2007 übernahm. Dabei wurden dem Beklagten lediglich Kontoauszüge übersandt, die Steuerakten verblieben bei dem Finanzamt B (Übernahme im sog. aktenlosen Verfahren).
Mit bei dem Beklagten für die Streitjahre 2007 bis 2010 eingereichten Einkommensteuererklärungen erklärte die Klägerin u.a. in der Anlage R eine Leibrente aus „sonstigen Verpflichtungsgründen“ i.H.v. 90.000,- € jährlich, die am 01.01.1994 begonnen hatte und bis zu ihrem Tod läuft (Bl. 14, 39, 58, 72 Einkommensteuerakte – EStA). Nähere Erläuterungen erfolgten nicht. Die maschinelle Datenverarbeitung für die Einkommensteuerveranlagung des Jahres 2007 steuerte im Rahmen des Risikomanagements einen Prüfhinweis betreffend die Rente aus (Bl. 15 EStA). Da – nach den Angaben des Beklagten – ein Steuerbescheid des Finanzamtes B ergab, dass die Zahlungen in der Vergangenheit mit dem Ertragsanteil (i.H.v. 17 %) der Steuerpflicht unterworfen worden waren, berücksichtigte der Beklagte mit Einkommensteuerbescheiden vom 04.11.2008 (2007), vom 13.10.2009 (2008), vom 06.09.2010 (2009) und vom 04.08.2011 (2010) die von der Klägerin erklärte Leibrente in allen Jahren entsprechend mit einem Ertragsanteil i.H.v. 17 %. Der maschinelle Prüfhinweis aus dem Jahr 2007 wurde mit dem handschriftlichen Bearbeitervermerk „erstmalige VA bei FA A s. Bescheid v. FA B“ versehen. Sämtliche Bescheide wurden bestandskräftig (Bl. 20 ff., 41 ff., 59 ff., 73 ff. EStA).
Am 06.03.2012 übersandte das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung dem Beklagten eine Kontrollmitteilung. Danach war bei der Prüfung des Sohnes der Klägerin festgestellt worden, dass dieser aus einem im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge geschlossenen notariellen Übertragungsvertrag vom 29.10.1993 regelmäßig Zahlungen i.H.v. 90.000,- € jährlich an seine Mutter – die Klägerin - geleistet hatte, die als dauernde Last bisher als Werbungskosten im Rahmen seiner Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt worden, richtigerweise jedoch bei seinen Sonderausgaben abzusetzen seien (Bl. 81 EStA). Der der Zahlungsverpflichtung zugrunde liegende notarielle Vertrag war der Kontrollmitteilung beigefügt (Bl. 83 ff. EStA). Nach Prüfung der übersandten Unterlagen gelangte der Beklagte zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin geltend gemachten Versorgungsleistungen i.H.v. 90.000,- € jährlich korrespondierend in voller Höhe steuerpflichtig seien. Da der notarielle Übertragungsvertrag dem Beklagten erstmals mit der Kontrollmitteilung vorlag und er – nach seinen Angaben – bis zu diesem Tag von dem Rechtsgrund für die erklärten Zahlungen keine Kenntnis gehabt hatte, sah der Beklagte außerdem die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO als erfüllt an und änderte die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre auf dieser Grundlage dahingehend, dass er die von der Klägerin erhaltenen Zahlungen als wiederkehrende Bezüge (dauernde Last) der vollen Besteuerung unterwarf (geänderte Einkommensteuerbescheide für 2007 bis 2010 vom 23.04.2012). Die Änderungen wurden in den Bescheiden erläutert (Bl. 27 ff., 48 ff., 64 ff., 78 ff. EStA).
Die Klägerin erhob dagegen am 23.05.2012 Einspruch und trug vor, der Übertragungsvertrag vom 29.10.1993 habe dem Finanzamt B bereits im Rahmen des Veranlagungsverfahrens 1994 vorgelegen. Sie könne sich lediglich nicht mehr daran erinnern, ob sie den Vertrag bereits mit der Einkommensteuererklärung 1994 oder erst später auf Anforderung des Finanzamtes während des Veranlagungsverfahrens eingereicht habe. Sie habe ihren Mitwirkungspflichten genügt. Die rechtliche Prüfung der erklärten Zahlungen als Leibrente habe dem Finanzamt oblegen.
Mit Einspruchsentscheidung vom 23.01.2013 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Er führte im Wesentlichen aus, der vom Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung im März 2012 übersandte Übertragungsvertrag vom 29.10.1993 habe ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen. Der Vertrag sei ein nachträglich bekannt gewordenes Beweismittel; die Regelungen des ...