Die Ansatzfrage stellt sich bei finanziellen Vermögenswerten insbesondere unter dem Aspekt der persönlichen Zurechnung. Wenn etwa eine Forderung zivilrechtlich von Unternehmen A auf Unternehmen B übertragen wird, aber bei Forderungsverkäufer A bedeutsame Risiken verbleiben, wer hat dann die Forderung zu bilanzieren? Die Regelungen von IFRS 9 stellen hier auf drei Grundfragen ab:
- Ist es überhaupt zu einer zivilrechtlich wirksamen Übertragung der vertraglichen Rechte aus dem Finanzinstrument gekommen?
- Sind mit der Übertragung der Rechte auch die Risiken aus dem Finanzinstrument ganz, gar nicht oder teilweise übertragen worden?
- Falls irgendeine Art von Risikoteilung vereinbart wurde, wer hat die Kontrolle bzw. Verfügungsmacht über das Finanzinstrument?
Zunächst ist also zu würdigen, ob die mit dem finanziellen Vermögenswert verbundenen Rechte auf Erhalt von Zahlungen (etwa Dividenden bei Aktien, Zins und Tilgungen bei Darlehen) übertragen wurden (transfer of contractual rights; IFRS 9.3.2.4(a)). Regelmäßig setzt dies eine zivilrechtlich wirksame Abtretung voraus. Auch ohne Übergang der Rechte im Außenverhältnis kann es ausnahmsweise im Rahmen sog. Durchleitungsvereinbarungen (pass through arrangements) zur bilanziellen Übertragung der Forderung kommen, wenn der Übertragende dazu verpflichtet ist, die eingehenden Zahlungen zeitnah an den Erwerber weiterzuleiten (IFRS 9.3.2.4(b)). Derartige Durchleitungsvereinbarungen kommen etwa bei sog. ABS-Papieren vor.
Hat eine wirksame Übertragung der vertraglichen Rechte (in der Regel also eine Abtretung) stattgefunden, ist im zweiten Schritt eine Würdigung der Risiken (und Chancen) vorzunehmen. Eine einfache Lösung ergibt sich dann, wenn das Risiko (fast) ausschließlich von einer Partei getragen wird:
- Wenn so gut wie alle Risiken (substantially all of the risks) auf den Käufer übertragen werden, ist der sonstige finanzielle Vermögenswert beim Verkäufer auszubuchen und beim Käufer einzubuchen (IFRS 9.3.2.6(a)).
- Umgekehrt unterbleibt trotz zivilrechtlich wirksamer Abtretung eine Ausbuchung, wenn so gut wie alle Risiken beim Forderungsverkäufer verbleiben (IFRS 9.3.2.6(b)).
Werden die Risiken hingegen teils übertragen, teils behalten (Risikoteilung), ist zusätzlich der Kontrollaspekt zu würdigen:
- Erwirbt der Käufer die Kontrolle, d. h., hat er die praktische Fähigkeit (practical ability), den finanziellen Vermögenswert ohne Auflagen und Beschränkungen an einen Dritten weiterzuveräußern, zu verpfänden usw., bucht der Verkäufer den Vermögenswert aus. Das bei ihm verbleibende Risiko passiviert er, bei einer verkauften Forderung z. B. unter Berücksichtigung des bei ihm verbleibenden maximalen Ausfallbetrags und der Ausfallwahrscheinlichkeit (IFRS 9.3.2.6(c)(i)).
- Erwirbt der Käufer nicht die Kontrolle, bucht der Verkäufer den finanziellen Vermögenswert nur zum Teil aus. In Höhe seines Risikoanteils (continuing involvement) behält er ihn in den Büchern. Zusätzlich passiviert auch er eine Verbindlichkeit, die so zu bemessen ist, dass sich der gleiche Ergebnis- bzw. Nettoeffekt wie bei der Variante mit Kontrollübergang ergibt (IFRS 9.3.2.6(c)(ii) i. V. m. IFRS 9.3.2.16).
Zum Ganzen folgendes Beispiel eines Forderungsverkaufs (Factoring):
Beispiel
A veräußert eine Forderung von 100 für 95 an ein Factoringunternehmen. 50 % eines eventuellen Forderungsausfalls gehen zulasten von A (Risikoteilung). Die Wahrscheinlichkeit eines Forderungsausfalls wird mit 4 % eingeschätzt.
Variante 1: A gibt die Kontrolle über die Forderung auf
A bucht die Forderung aus:
Konto |
Soll |
Haben |
Geld |
95 |
|
Aufwand |
7 |
|
Forderung |
|
100 |
Garantieverbindlichkeit (50 × 4 %) |
|
2 |
Variante 2: A behält die Kontrolle über die Forderung
A führt die Forderung in Höhe seines Maximalrisikos (= 50) fort und passiviert überdies die Garantieverbindlichkeit (50 + 2):
Konto |
Soll |
Haben |
Geld |
95 |
|
Aufwand |
7 |
|
Verbindlichkeit |
|
52 |
Forderung |
|
50 |
Wer die Verfügungsmacht/Kontrolle hat, wird nach der praktischen Fähigkeit (practical ability) des Erwerbers beurteilt, die Forderung ohne Auferlegung besonderer Restriktionen durch Weiterveräußerung, Verpfändung usw. zu verwerten. Bei einer stillen, dem Schuldner nicht angezeigten Forderungsabtretung ist diese Voraussetzung etwa dann nicht erfüllt, wenn der Forderungskäufer auf keinen Fall die Umwandlung in eine offene Forderung verlangen kann.
Das Prüfschema in Abb. 1 fasst die vorstehenden Ausführungen zusammen.
Abb. 1: Prüfschema: Ausbuchung Finanzaktiva
In der Praxis übernimmt der Verkäufer bei Verkauf ganzer Forderungsportfolien häufig eine first-loss-Garantie, der zufolge die ersten X Prozent des gesamten Forderungsausfalls zu seinen Lasten gehen, der Käufer darüber hinausgehende Ausfälle trägt. Je nach Wahrscheinlichkeit der Forderungsausfälle (z. B. 3 % Ausfallwahrscheinlichkeit bei einer first-loss-Garantie von 5 %) kann eine solche Konstruktion dazu führen, dass so gut wie alle relevanten Risiken beim Forderungsverkäufer verbleiben, dieser also gar nichts ausbucht.