Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Der zivilrechtliche Verzicht eines Kindes gegenüber seinen Eltern auf den gesetzlichen Erbteil bewirkt nicht, dass seinem Kind –dem Enkel des Erblassers– der Freibetrag zu gewähren ist, der im Falle des Versterbens des Kindes zu gewähren ist. Das Erbschaftsteuerrecht folgt insoweit nicht der Fiktion des Zivilrechts.
2. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Normenkette
§ 15 Abs. 1, § 16 Abs. 1 Nr. 2 und 3 ErbStG, § 1953, § 2344 Abs. 1, § 2346 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BGB, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG
Sachverhalt
Der Kläger wurde von seinem im Jahr 2019 verstorbenen Großvater (Erblasser) testamentarisch als Erbe zu einem Viertel eingesetzt. Zuvor hatte sein Vater mit notariell beurkundetem Vertrag gegenüber dem Erblasser auf sein gesetzliches Erbrecht einschließlich seines Pflichtteilsrechts verzichtet. Die Erstreckung des Erbverzichts auf weitere Abkömmlinge wurde ausgeschlossen (§ 2349 BGB).
In der ErbSt-Erklärung für den Erbfall nach dem Erblasser beantragte der Kläger die Gewährung eines Freibetrags i. H. v. 400.000 EUR gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 i. V. m. § 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 2 ErbStG. Er war der Ansicht, dass er aufgrund der in § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten zivilrechtlichen Vorversterbensfiktion, nach der der verzichtende Vater so behandelt wird, als würde er zur Zeit des Erbfalls nach dem Tod des Erblassers nicht mehr leben, als Kind eines verstorbenen Kindes (des Großvaters) i. S. d. § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG anzusehen sei. Das FA vertrat die Auffassung, dass dem Kläger als Kindeskind des Erblassers gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG nur ein Freibetrag i. H. v. 200.000 EUR zu gewähren sei und setzte die ErbSt entsprechend fest. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (Niedersächsisches FG, Urteil vom 28.2.2022, 3 K 176/21, Haufe-Index 15223660).
Entscheidung
Der BFH hat die Revision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Der BFH hat mit der vorliegenden Entscheidung dem Steuersparmodell, dass ein Kind auf seinen Erbteil in Bezug auf seine Eltern verzichtet, damit seine Kinder bei dem Tod der Großeltern einen höheren Freibetrag erhalten, eine Absage erteilt.
2. Nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG wird Kindern des Erblassers ein Freibetrag i. H. v. 400.000 EUR gewährt. Dies gilt auch für Kinder von Kindern, die vor dem Erblasser verstorben sind. In diesem Fall erhalten die Enkel des Erblassers den Freibetrag i. H. v. 400.000 EUR. Nach Auffassung des BFH gilt dies aber nur, wenn die Kinder des Erblassers tatsächlich verstorben sind. Die zivilrechtliche Vorversterbensfiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB, nach der der Verzichtende von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen, wie wenn er zur Zeit des Erbfalls nicht mehr lebte, bewirkt nicht, dass das erbverzichtende Kind als "verstorbenes Kind" i. S. d. § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG anzusehen ist und dessen Abkömmlinge den Freibetrag i. H. v. 400.000 EUR erhalten. Die erbschaftsteuerrechtliche Behandlung weicht hier teilweise von der Systematik des Zivilrechts ab. Dies ist zulässig und entspricht dem Willen des Gesetzgebers.
3. Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Kind des Erblassers auch bei einem Verzicht auf den gesetzlichen Erbteil noch aufgrund gewillkürter Erbfolge, d. h. testamentarisch, neben seinem Kind, dem Enkel des Erblassers, zum Erben berufen werden könnte. Aus diesem Grund kommt auch eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG nicht in Betracht. Diese würde eine legale Steuerumgehungsmöglichkeit schaffen, die geeignet wäre, die Staffelung der Freibetragsregelung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 und Nr. 3 ErbStG auszuhöhlen. Es kommt nach Auffassung des BFH nicht darauf an, ob zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers feststeht, dass das verzichtende Kind nicht testamentarischer Erbe geworden ist.
4. Das nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG grundgesetzlich gewährleistete Erbrecht wird hierdurch nicht verletzt. Der Kläger erhält als Enkel den Freibetrag gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG i. H. v. 200.000 EUR. Er wird erbschaftsteuerlich nicht schlechter gestellt, als wenn sein Vater, das Kind des Erblassers, – wie es tatsächlich der Fall ist –– noch lebte und ihn unterhaltsrechtlich weiter unterstützen kann.
5. Es liegt auch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Die Fallgruppen "Kinder tatsächlich verstorbener Kinder" und "Kinder von als fiktiv verstorben geltenden Kindern" können nicht gleichgesetzt werden. Nach § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB als fiktiv als verstorben geltende Kinder können nach wie vor Erwerber aufgrund gewillkürter Erbfolge sein und den Freibetrag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 1 ErbStG erhalten, wohingegen dies für tatsächlich verstorbene Kinder nicht möglich ist. Dies rechtfertigt eine abweichende Beurteilung bei der Gewährung des Freibetrags.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 31.7.2024 – II R 13/22