Leitsatz
1. Die Jahresfrist für die Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Klagerücknahme (§ 72 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 56 Abs. 3 FGO) beginnt mit der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses zu laufen.
2. War für das Klageverfahren ein Prozessbevollmächtigter bestellt, beginnt die Frist ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses an den Bevollmächtigten zu laufen.
Normenkette
§ 72 Abs. 2, § 56 Abs. 3, § 62 Abs. 3 Satz 5 FGO
Sachverhalt
Rechtsanwalt (RA) B hatte für die Klägerin Klage erhoben und sich selbst in der Ich-Form als Prozessbevollmächtigten bezeichnet mit dem Zusatz "aus der Kanzlei A, B und Kollegen". Die Prozessvollmacht lautete ausschließlich auf seinen Namen.
Die Klägerin nahm die Klage persönlich am 29.9.2003 per Telefax zurück. Eine Kopie wurde an die Rechtsanwaltskanzlei "A, B und Kollegen" übersandt. Diese war auch in dem Beschluss vom 30.9.2003, mit dem das FG das Verfahren eingestellt hat, als Prozessbevollmächtigte bezeichnet.
Mit Schriftsatz vom 15.4.2005 machte die Klägerin die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend.
Das FG hob den Einstellungsbeschluss auf und erkannte durch Urteil, dass die Klage zurückgenommen worden sei. Die Jahresfrist für die Geltendmachung der Unwirksamkeit der Klagerücknahme (§ 72 Abs. 2 Satz 3 FGO) sei nicht eingehalten worden. Ein Fall höherer Gewalt liege nicht vor.
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück:
Die Jahresfrist des § 72 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 56 Abs. 3 FGO beginne erst mit der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses. Auch wenn es sich bei der Jahresfrist nicht um eine Rechtsmittelfrist handle, spreche eine Rechtsschutz gewährende Auslegung von Verfahrensnormen dafür, den Fristbeginn ebenso zu bestimmen wie bei einer Rechtsmittelfrist.
Für den Beginn von Rechtsmittelfristen sei aber die Zustellung bzw. die Bekanntgabe der Entscheidung maßgebend. Sei ein Prozessbevollmächtigter bestellt, sei die Bekanntgabe an diesen erforderlich.
Im Streitfall könne auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG nicht festgestellt werden, dass der Einstellungsbeschluss Rechtsanwalt B wirksam bekannt gegeben worden sei. RA B habe erklärt, am 30.9.2003 mit seiner Kanzlei umgezogen zu sein.
Hinweis
1. Wird die Klage zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluss ein (§ 72 Abs. 2 Satz 2 FGO). Wird nachträglich die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend gemacht, so gilt § 56 Abs. 3 FGO sinngemäß (§ 72 Abs. 2 Satz 3 FGO).
Nach § 56 Abs. 3 FGO kann nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder ohne Antrag bewilligt werden, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.
2. Bisher war nicht höchstrichterlich geklärt, ab welchem Zeitpunkt die Jahresfrist für die nachträgliche Geltendmachung der Unwirksamkeit der Klagerücknahme beginnt.
Anstelle des in § 56 Abs. 3 FGO genannten "Ende(s) der versäumten Frist" kommt im Fall der Klagerücknahme als Fristbeginn deren Zugang beim Gericht oder die Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses in Betracht.
Bei der Jahresfrist des § 72 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 56 Abs. 3 FGO handelt es sich zwar nicht um eine Rechtsmittelfrist. Für die Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses als den für den Fristbeginn maßgeblichen Zeitpunkt spricht aber eine Gleichbehandlung mit dem Fristbeginn bei Rechtsmittelfristen. Der Einstellungsbeschluss war bis zu der Neufassung des § 128 Abs. 2 FGO durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19.12.2000 (BGBl I 2000, 1757) mit der Beschwerde anfechtbar. Die Beschwerdefrist von zwei Wochen begann gem. § 129 Abs. 1 FGO mit der Bekanntgabe der Entscheidung, also des Einstellungsbeschlusses. Überzeugende Gründe, die Jahresfrist des § 56 Abs. 3 FGO zu einem anderen Zeitpunkt beginnen zu lassen, sind nicht ersichtlich. Ein anderer – früherer – Zeitpunkt würde lediglich zu einer Komplizierung des Rechts führen.
3. Ist ein Prozessbevollmächtigter bestellt, dann sind nach § 62 Abs. 3 Satz 5 FGO Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts an diesen zu richten.
Rechtsmittelfristen werden bei Bestellung eines Prozessbevollmächtigten nur durch die Zustellung der Entscheidung an diesen in Lauf gesetzt (BFH, Beschlüsse vom 3.10.1972, VII B 152/79, BStBl II 1973, 86; vom 25.8.2006, VI B 180 – 183/03, BFH/NV 2005, 224). Dadurch soll im Interesse des Klägers verhindert werden, dass sein Prozessbevollmächtigter "übergangen" wird.
Bei der Jahresfrist besteht ein vergleichbares Interesse des Klägers daran, dass sein Prozessbevollmächtigter nicht "ausgeschaltet" wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Kläger die Klage auch dann persönlich zurücknehmen kann, wenn er einen Prozessbevollmächtigten bestellt hat (BFH, Urteil vom 16.7.1976, VIII R 52/76, BStBl II 1976, 300).
4. Das erkennbare Bestreben, die Umgehung eines Prozessbevollmächtigten zu erschweren und effektiven Rechtsschutz zu gewähren, lag auch dem BFH-U...