Rz. 203
Die Abgeltungswirkung nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 1 EStG tritt laut BFH auch dann ein, wenn die bei der Auszahlung der Kapitalerträge einbehaltene KapESt nicht beim FA angemeldet und abgeführt wird und kein – die Abgeltungswirkung des Steuerabzugs ausschließender Fall nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 2, S. 2 oder S. 3 EStG – vorliegt. Dies gilt laut BFH auch dann, wenn der Stpfl. Kapitaleinkünfte in Form von Scheinrenditen aus einem betrügerischen Schneeballsystem erzielt hat, für die aus seiner Sicht KapESt nach § 43 Abs. 5 S. 1 EStG einbehalten worden ist. In dem konkreten Fall waren die dem Stpfl. in den Streitjahren ausgewiesenen und ausgezahlten Scheinrenditen laut BFH zwar in voller Höhe als Kapitaleinkünfte i. S. d. § 20 EStG gem. § 11 EStG zugeflossen. Sie waren jedoch nach § 2 Abs. 5b EStG nicht der Einkommensbesteuerung zugrunde zu legen, da die ESt für diese Kapitaleinkünfte nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 1 EStG durch die Einbehaltung der KapESt abgegolten wurde. Bei der Entscheidung, ob einer der in § 20 EStG aufgeführten Tatbestände erfüllt ist, kommt es laut BFH entscheidend darauf an, wie sich das jeweilige Rechtsgeschäft aus der Sicht des Kapitalanlegers als Leistungsempfänger bei objektiver Betrachtungsweise darstellt, da auf den nach außen erkennbaren Willen des Betreibers des Schneeballsystems abzustellen ist. Da der Stpfl. in dem konkreten Fall den tatsächlichen Sachverhalt nicht durchschaute, sondern angenommen hat, ein anderer habe gemäß der Bestätigung in seinem Auftrag und für seine Rechnung Aktiengeschäfte durchgeführt, war dieser Sachverhalt laut BFH der Besteuerung zugrunde zu legen. Danach handelte es sich in dem vom BFH entschiedenen Fall bei den erzielten Kapitalerträgen aus den Anlagegeschäften um Einkünfte aus Kapitalvermögen i. S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 S. 1 EStG, obgleich es sich um sog. Scheinrenditen handelte.
Rz. 204
Es ergibt sich laut BFH weder aus dem Wortlaut noch aus der Gesetzesbegründung noch aus der Gesetzessystematik, dass die Abgeltungswirkung nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 1 EStG erst dann eintritt, wenn die nach § 43 Abs. 1 EStG einbehaltene KapESt beim FA angemeldet und an dieses abgeführt wird. Die Abgeltungswirkung tritt nach der Rspr. auch dann ein, wenn die Kapitalerträge aus Scheinrenditen aus der Sicht des Anlegers durch den Steuerabzug der KapESt unterlegen und die Voraussetzungen für den Ausschluss der Abgeltungswirkung nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 2 i. V. m. § 44 Abs. 1 S. 10 und 11 und Abs. 5 und § 43 Abs. 5 S. 2 EStG nicht vorgelegen haben.
Nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 EStG ist die ESt für Kapitalerträge i. S. d. § 20 EStG mit dem Steuerabzug abgegolten, soweit diese der KapESt unterlegen haben. Dies entspricht der gesetzlichen Definition der KapESt in § 43 Abs. 1 S. 1 EStG, nach der die ESt bei Kapitalerträgen durch Abzug vom Kapitalertrag (KapESt) erhoben wird. Voraussetzung für den Eintritt der Abgeltungswirkung ist danach laut BFH ausdrücklich allein der Steuerabzug. Der Wortlaut der Regelung stellt laut BFH weder auf die Anmeldung der KapESt nach § 45a EStG noch auf deren Abführung nach § 44 EStG ab. Zwar enthält der Wortlaut des § 43 Abs. 5 S. 1 EStG die Einschränkung, dass die Abgeltungswirkung nur "soweit" eintritt, wie die Kapitalerträge der KapESt unterlegen haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Abgeltungswirkung nur dann eintritt, wenn die KapESt auch an das FA abgeführt wird. Das Wort "soweit" wurde durch das Jahressteuergesetz 2010 vom 8.12.2010 eingeführt. Ziel der Gesetzesänderung war es zu verhindern, dass durch gezielte Gestaltungen eine zu niedrige Ersatzbemessungsgrundlage nach § 43a Abs. 2 S. 7 EStG geschaffen werden kann. Aus diesem Grund wurde für den darüber hinausgehenden Betrag eine "Veranlagungspflicht" nach § 32d Abs. 3 EStG. Auch die systematische Auslegung spricht laut BFH gegen die Auffassung, dass die Abgeltungswirkung nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 1 EStG voraussetzt, dass die KapESt vom Schuldner der Kapitalerträge bzw. der auszahlenden Stelle beim FA angemeldet und an dieses abgeführt wird. Im EStG werden die Entrichtung der KapESt in § 44 EStG und die Anmeldung der KapESt in § 45a Abs. 1 EStG i. V. m. § 150 Abs. 1 S. 3 AO geregelt. Dagegen ist die Abgeltungswirkung in § 43 Abs. 5 S. 1 EStG bei den Vorschriften zum Abzug der KapESt normiert. Bereits dieses Regelungssystem spricht dafür, dass es für die Abgeltungswirkung nur auf den Abzug und nicht auf die Anmeldung und Abführung der KapESt ankommt. Darüber hinaus wird dieses Normverständnis auch durch die in den gesetzlichen Ausschlussregelungen zur Abgeltungswirkung vorgesehene Risikoverteilung bestätigt. Nach § 43 Abs. 5 S. 1 Halbs. 2 EStG tritt die Abgeltungswirkung nicht ein, wenn der Gläubiger der Kapitalerträge nach § 44 Abs. 1 S. 8 und 9 und Abs. 5 EStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung in Anspruch genommen werden kann. Könnte der Steuerpflichtige als Gläubiger der Kapitalerträge...