Dr. Dino Höppner, Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 64
Das Steuerrecht, und damit auch das Bilanzsteuerrecht, fällt nicht in den Harmonisierungsauftrag der EG. Die Bilanzrichtlinie (Rz. 33) ist daher nicht darauf gerichtet, durch Harmonisierung des Bilanzsteuerrechts die Besteuerungsgrundlagen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu bestimmen. Andererseits ist es den Mitgliedstaaten nicht verboten, für die Bestimmung der steuerlichen Bemessungsgrundlage an die Bilanzrichtlinie anzuknüpfen.
Rz. 64a
In der Bundesrepublik knüpft das Steuerbilanzrecht aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes an die Handelsbilanz und damit, soweit der Regelungsbereich der EG-Richtlinien reicht (Rz. 33), an die Bilanzrichtlinie und die übrigen Richtlinien an. Soweit der Finanzrichter daher im Regelungsbereich der EU-Richtlinien Vorschriften des Bilanzsteuerrechts auslegt, legt er gleichzeitig die Regelungen des HGB und damit mittelbar die Bestimmungen der EU-Richtlinien aus. An sich wäre die Auffassung vertretbar, dass das EU-Bilanzrecht, soweit es im Rahmen des Steuerbilanzrechts angewandt wird, nationales, nicht harmonisiertes Recht geworden ist. Das würde bedeutet, dass für den Bereich der Handelsbilanz eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen wäre, für den Bereich der Steuerbilanz aber nicht. Im Ergebnis könnten Handelsbilanz und Steuerbilanz trotz des Grundsatzes der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Der EuGH hat jedoch einen anderen Weg eingeschlagen. Er geht davon aus, dass ein Gericht, das aufgrund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in einer Steuersache Bilanzrecht, damit auch europäisches Bilanzrecht auslegt, jedenfalls mittelbar in den Regelungsbereich der EU-Richtlinien eingreift. Daher werden auch im Steuerbilanzrecht Fragen geklärt, die zum Regelungsbereich der EU-Richtlinien gehören. Damit greift die Vorabentscheidungskompetenz des EuGH und, im Fall von letztinstanzlichen Gerichten, die Vorlagepflicht des erkennenden Gerichts nach Art. 234 Abs. 3 EGV ein.
Rz. 64b
Die nationalen Vorschriften müssen aber auch den Vorgaben des Primärrechts entsprechen. Daher haben die Grundfreiheiten als unmittelbar geltendes Unionsrecht grundsätzlich Vorrang vor nationalen Vorschriften. In Bezug auf § 5 EStG dürfte dies allerdings kaum praktische Relevanz haben, da die Norm keine unterschiedliche Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte vorsieht. Allerdings ist dies jedoch hinsichtlich der Charta der Grundrechte, die ebenfalls vorrangig anzuwenden ist. Diese kann – etwa in Gestalt des allgemeinen Gleichheitssatzes – die Auslegung der GoB und damit die Anwendung des § 5 unmittelbar beeinflussen. Ebenso ist das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV für steuerliche Maßnahmen zu beachten, die als Beihilfe i. S. d. Art. 107 Abs. 1 AEUV qualifiziert werden. Dies kann auch Einfluss auf die Anwendung des § 5 EStG haben.