Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Prof. Dr. Christoph Watrin
4.1 Allgemeines
Rz. 65
An sich kann die Frage, wie etwas bilanziert wird, gedanklich von der Frage der Gewinn- und Verlustrealisierung getrennt werden; die Bilanzierung kann ergebnisneutral erfolgen (z. B. bei Veränderung eines Aktivpostens durch entsprechende Veränderung eines korrespondierenden Passivpostens, wie bei Treuhandverhältnissen). Praktisch entscheidet jedoch die Frage, ob und mit welchem Wert etwas bilanziert wird, auch die Frage der Gewinn- oder Verlustrealisierung. Dabei ist die Abhängigkeit von Bilanzierung und Gewinn- und Verlustrealisierung im Grundsatz wechselseitig; es kann argumentiert werden, weil etwas in bestimmter Weise bilanziert werden müsse, folge daraus zwingend eine bestimmte Gewinn- und Verlustrealisierung, es kann aber auch argumentiert werden, da Gewinn oder Verlust realisiert werden müsse, folge daraus zwingend eine bestimmte Bilanzierung. Dabei ist die Bilanzierung nur die technische Form der Darstellung in der Bilanz, also ein formaler Aspekt, während die Gewinn- und Verlustrealisierung den materiellen Aspekt des (richtigen) Ergebnisausweises enthält. Gewinn- und Verlustrealisierung sind daher vorrangig; eine Bilanzierung kann nie eine Gewinn- und Verlustrealisierung, sondern nur die Grundsätze der Gewinn- und Verlustrealisierung eine bestimmte Bilanzierung erzwingen.
Rz. 65a
Die Frage, was bilanziert wird, ist in § 4 EStG Rz. 26 (Wirtschaftsgut) sowie in § 5 EStG Rz. 162ff. dargestellt. Die Frage, mit welchem Wert ein Wirtschaftsgut zu bilanzieren ist, wird in den §§ 6 und 7 EStG behandelt. Im Folgenden werden daher nur solche Rechtsverhältnisse behandelt, die in den zitierten Kommentierungen nicht oder nicht in den erforderlichen Zusammenhängen besprochen werden konnten. Dabei steht die Gewinn- und Verlustrealisierung im Vordergrund.
4.2 Gewinnverwirklichung nach dem Realisationsprinzip
4.2.1 Das Realisationsprinzip
Rz. 66
Ein Gewinn wird erst ausgewiesen und besteuert, wenn er realisiert worden ist. Die Realisierung erfordert regelmäßig einen Umsatzakt am Markt (Rz. 71). Grundlage des Realisationsprinzips ist, dass dem Unternehmen durch den Umsatzakt am Markt der Wert seiner Leistung von außen, einem Dritten, zufließt und dadurch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht wird. Hierzu gehören Umsatzakte, die einzelne Wirtschaftsgüter betreffen, sowie die Betriebsveräußerung nach § 16 EStG.
Rz. 66a
Systematisch ist die Realisation aufgrund des Realisationsprinzips zu unterscheiden von einem Gewinnausweis, der im letztmöglichen Zeitpunkt erfolgt, in dem noch die Erfassung der stillen Reserven möglich ist. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem das Wirtschaftsgut ohne Umsatzakt aus der steuerlichen Verstrickung ausscheidet, sodass ein späterer Umsatzakt am Markt nicht mehr zu einem Gewinnausweis bei dem Unternehmen führen kann. In diesen Fällen fließt dem Unternehmen keine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch seine Tätigkeit am Markt zu, vielmehr ist Rechtsgrund des Gewinnausweises die Sicherstellung der Besteuerung der stillen Reserven, nicht mehr die Realisation durch einen Umsatzakt am Markt. Man kann diese Fälle zusammenfassend als "Entstrickung" bezeichnen. Hierunter fallen der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts, die Entnahme und die Betriebsaufgabe.
Rz. 66b
An sich kann von der Frage, zu welchem Zeitpunkt ein Ergebnis auszuweisen ist, gedanklich die Frage getrennt werden, wann das Ergebnis tatsächlich, ohne Rücksicht auf den Ausweis, entstanden ist. Steuerlich von Bedeutung ist jedoch nur die Frage, zu welchem Zeitpunkt Gewinne und Verluste in der Bilanz auszuweisen sind, da sie sich nur zu diesem Zeitpunkt steuerlich auswirken können. Im Folgenden wird daher nur die Frage des Gewinn- und Verlustausweises, und damit der steuerlichen Realisierung, behandelt.
Rz. 66c
Wann Gewinn und Verlust auszuweisen sind, richtet sich nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung; geregelt wird dies durch zwei Bilanzierungsgrundsätze, das Realisationsprinzip und den Imparitätsgrundsatz.
Rz. 66d
Ausgangspunkt für den Gewinn- und Verlustausweis ist immer der einzelne Vermögensgegenstand bzw. das einzelne Geschäft. Wegen des Grundsatzes der Einzelbilanzierung und –bewertung (Rz. 28) wird der Bilanzgewinn und -verlust nicht als einheitliche Größe ermittelt, sondern ergibt sich aus der Summe der einzelnen gewinn- oder verlustrealisierenden Maßnahmen. Ausnahmen von der Maßgeblichkeit des einzelnen Wirtschaftsguts bzw. Vermögensgegenstands müssen gesetzlich geregelt sein, wie dies beispielsweise in § 5 Abs. 1a S. 2 EStG für Bewertungseinheiten geschehen ist (Rz. 28).
Rz. 66e
Im Folgenden wird, entsprechend dem üblichen Sprachgebrauch, von Gewinnrealisierung gesprochen; richtig wäre der Ausdruck "Ergebnisrealisierung".
Rz. 67
Nach den §§ 4 Abs. 1, 5 EStG erfolgt die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich (Bilanzierung); Gewinn ist daher als Vermögenszuwachs, Verlust als Vermögensminderung definiert. Maßgebend für den Gewinn- und Verlustausweis in der Bilanz ist damit, ob, wann und mit welchem Wert ein Aktivposten bzw. ein Passivposten angese...