Dr. Dino Höppner, Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 154
Neben die Fälle, in denen trotz Gewinnrealisierung nach dem Realisationsprinzip der Gewinnausweis unterbleibt, treten die Fälle, in denen ein Gewinn auszuweisen ist, obwohl eine Realisierung nach dem Realisationsprinzip nicht eingetreten ist. Zugrunde liegt diesen Regelungen der Gedanke, dass alle betrieblichen Wirtschaftsgüter in einer bestimmten steuerrechtlichen Verstrickung stehen, um die Erfassung der stillen Reserven sicherzustellen. Endet diese Steuerverstrickung (Entstrickung), müssen diese stillen Reserven aufgedeckt und steuerlich erfasst werden.
Dieses Prinzip der Steuerentstrickung liegt mehreren einzelnen gesetzlichen Regelungen zugrunde, es ist jedoch gesetzlich nirgends als umfassendes Regelungsprinzip ausgeprägt. Was (steuerpflichtiger) Gewinn ist, lässt sich daher nicht einem kodifizierten allgemeinen Prinzip entnehmen, sondern nur den positivrechtlichen Regelungen der §§ 4 bis 7e EStG und einiger Bestimmungen der ertragsteuerlichen Nebengesetze.
Rz. 155
Die grundlegende Norm, die einen Gewinnausweis ohne Realisationsakt vorsieht, ist die Vorschrift über Entnahmen in § 4 Abs. 1 S. 2 EStG. Dabei handelt es sich nicht in erster Linie um eine Vorschrift über die Gewinnrealisierung; sie steht systematisch in einem anderen Zusammenhang. Wenn der Gewinn durch Vermögensvergleich ermittelt wird, besteht die Gefahr, dass dieser Gewinn verfälscht wird, wenn er nicht um außerbetriebliche Vermögenszu- und Vermögensabflüsse korrigiert wird. Das ist die Funktion der Entnahme, die, ebenso wie ihr Gegenstück, die Einlage, die durch die außerbetrieblichen Vermögensänderungen erforderlich werdenden Korrekturen vornehmen soll (§ 4 Abs. 1 S. 8 EStG). Der Gesetzgeber hat dabei nicht in erster Linie an die Gewinnrealisierung gedacht. Das zeigt der systematische Zusammenhang mit der Einlage, die nicht zur Gewinnrealisierung führt, sowie die im Gesetz enthaltenen Beispiele für Entnahmen (z. B. Barentnahme), die nicht typischerweise zu Gewinnrealisierungen führen (vgl. das Fehlen der Anlagegüter in der Aufzählung, die die eigentliche Domäne der stillen Reserven sind).
Die Entnahmevorschriften sollen, ebenso wie die Einlagevorschriften, die betrieblichen Vermögensveränderungen von der Privatsphäre abgrenzen. Dem entspricht die Bewertung von Entnahme und Einlage mit dem Teilwert nach § 6 Abs. 1 Nr. 4, 5 EStG. Der Ansatz dieses Werts verhindert, dass das betriebliche Ergebnis durch Vermögensabflüsse in die Privatsphäre oder Vermögenszuflüsse aus der Privatsphäre verfälscht wird. Gleichzeitig führt die Bewertung der Entnahme mit dem Zeitwert aber zu einer Gewinnrealisierung bei der als "Entstrickung" aufgefassten Überführung ins Privatvermögen (zu Einzelheiten, insbesondere dem Versuch, die Entnahme über den "finalen Entnahmebegriff" als allgemeinen Gewinnrealisierungstatbestand zu verstehen, vgl. § 4 EStG Rz. 307ff.).
Rz. 156
Parallel zu § 4 Abs. 1 S. 2 EStG, der die Entnahme bei einem laufenden Betrieb regelt, ist § 16 Abs. 3 EStG zu sehen, der im Augenblick der Betriebsaufgabe eine Überführung der Wirtschaftsgüter in das Privatvermögen und den Ansatz der Wirtschaftsgüter mit dem gemeinen Wert vorsieht. Auch durch diese "Gesamtentnahme" kann Gewinn realisiert werden, ohne dass ein entgeltlicher Realisationsakt vorliegt. Wird das deutsche Besteuerungsrecht hinsichtlich des Veräußerungsgewinns sämtlicher Wirtschaftsgüter eines Betriebs oder Teilbetriebs ausgeschlossen oder beschränkt, wird eine Betriebsaufgabe fingiert (§ 16 Abs. 3a EStG).
Weitere Regelungen, denen das Entstrickungsprinzip zugrunde liegt, d. h. die Sicherstellung der Besteuerung der in der Bundesrepublik steuerlich verstrickten stillen Reserven, sind z. B. § 16 Abs. 3a EStG, § 11 Abs. 1 UmwStG, § 20 Abs. 1 S. 1 UmwStG, § 21 Abs. 1 S. 1 UmwStG, aber auch die §§ 2, 6 AStG und § 12 KStG.
Rz. 157
Der Grundsatz, dass es keinen allgemeinen Entstrickungstatbestand gibt, sondern nur einzelne Gewinnrealisierungstatbestände, hat auch Folgerungen für die Gewinnrealisierung bei der Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte, wenn mit dem ausländischen Staat ein DBA besteht; in diesem Fall ist die Erfassung der stillen Reserven durch die inländische Besteuerung gefährdet, da das Besteuerungsrecht dem ausländischen Staat zusteht. Besteht kein DBA, können die stillen Reserven weiterhin von der deutschen Steuer erfasst werden, es braucht daher kein Gewinn realisiert zu werden. Die ältere Rspr. hatte bei Bestehen eines DBA eine Gewinnrealisierung angenommen. Da hierfür eine Rechtsgrundlage jedoch nicht ersichtlich war, hatte der Gesetzgeber versucht, eine solche Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 5 EStG zu schaffen. M. E. ist dies jedoch missglückt, da die Überführung eines Wirtschaftsguts von einer Betriebsstätte in eine andere Betriebsstätte keine Überführung in ein anderes "Betriebsvermögen" darstellt. Das Betriebsvermögen bleibt dasselbe. Der Gesetzgeber hat daraufhin das Problem durch einen eigenen Gewinnrealisierungstatbestand (fiktiv...