Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Prof. Dr. Christoph Watrin
6.4.2.7.4.1 Handelsrechtliche Regelung
Rz. 399
Ist die Verbindlichkeit, die durch die Rückstellung berücksichtigt wird, erst in weiterer Zukunft zu erfüllen, stellt sich die Frage, ob eine Abzinsung des Rückstellungsbetrags zu erfolgen hat.
Die Frage der Abzinsung wurde ursprünglich unter dem Gesichtspunkt gesehen, dass die Verpflichtung, zu deren Erfüllung die Rückstellung gebildet wird, nicht sofort oder in näherer Zukunft zu erfüllen ist, sondern erst in späterer Zeit. Der Wert einer (unverzinslichen) Schuld, die erst in fernerer Zukunft zu entrichten ist, ist um den bis dahin anfallenden Zinsbetrag geringer als der einer sofort zu erfüllenden Schuld.
Rz. 400
Die regelmäßige Abzinsung unterstellt, dass der Rückstellungsbetrag verzinslich angelegt und daher mithilfe der Zinsen ein höherer Rückstellungsbetrag finanziert werden kann. Abzinsung i. d. S. bedeutet, dass die erst in Zukunft zu erfüllende Verbindlichkeit zum gegenwärtigen Bilanzstichtag um soviel geringer gebildet wird, dass die Zinsen den Rückstellungsbetrag bis zum Zahlungstag auf den vollen Nennwert auffüllen. Es werden also die künftig zu erwirtschaftenden Zinsen in die Rückstellungsbildung einbezogen. Damit werden zum gegenwärtigen Bilanzstichtag noch nicht verwirklichte (Zins-)Gewinne ausgewiesen, d. h. die ungewisse Verbindlichkeit (Rückstellung) um den Betrag der künftigen Zinsen unter dem Nennwert (Rückzahlungsbetrag) bewertet. Eine so verstandene Abzinsung verstößt gegen den Realisationsgrundsatz und ist ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung nicht zulässig.
Rz. 401
Eine Abzinsung war nach diesen Grundsätzen daher nur möglich, wenn in dem Rückstellungsbetrag ein Zinsanteil enthalten war, d. h. wenn angenommen werden konnte, dass bei sofortiger Bezahlung der ungewissen Verbindlichkeit der Zahlungsbetrag wegen einer gedanklich eingerechneten Verzinsung niedriger wäre als bei späterer Zahlung.
Rz. 401a
Durch das BilMoG hat sich die handelsrechtliche Rechtslage geändert. Nach § 253 Abs. 2 HGB sind Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr immer abzuzinsen, und zwar mit einem der Restlaufzeit entsprechenden durchschnittlichen Marktzins der vergangenen sieben Geschäftsjahre. Der Abzinsungszinssatz wird nach Maßgabe einer Rechtsverordnung durch die Deutsche Bundesbank ermittelt und monatlich bekanntgegeben. Die handelsrechtliche Regelung entspricht dem Grunde nach damit jetzt der steuerrechtlichen Regelung, nicht jedoch hinsichtlich des Prozentsatzes für die Abzinsung.
Rz. 402
Hat danach eine Abzinsung zu erfolgen, bedeutet dies gedanklich, dass die Rückstellung aufgespalten wird in den Nennbetrag der Verbindlichkeit und die Zinsschuld. Der Nennbetrag der Verbindlichkeit wird von dem ersten Bilanzstichtag an in voller Höhe zurückgestellt; der Zinsanteil als erst im Laufe der Zeit entstehende Verbindlichkeit wird nach dem jeweiligen Zinslauf bei Entstehung der Zinsverbindlichkeit zurückgestellt.
Rz. 403
Steuerrechtlich war bis Vz 1998 keine eigenständige Abzinsungsregelung vorhanden, sodass die handelsrechtliche Regelung nach dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz auch für das Steuerrecht galt.
6.4.2.7.4.2 Steuerrechtliche Regelung (ab Vz 1999)
Rz. 404
Steuerlich ist die Abzinsung von Rückstellungen durch Gesetz v. 24.3.1999 in § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e) EStG unabhängig von der handelsrechtlichen Rechtslage und damit unter Durchbrechung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, neu geregelt worden. Danach sind Rückstellungen grundsätzlich mit einem Zinssatz von 5,5 % abzuzinsen, und zwar auch dann, wenn der Verpflichtungsbetrag kein Zinselement enthält. Die Verpflichtung zur Abzinsung betrifft auch Rückstellungen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gebildet worden sind. Insoweit liegt eine unechte Rückwirkung vor, die als im Interesse der Allgemeinheit liegende Beschränkung der Bildung stiller Reserven verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig ist. Der ...