Dr. Dino Höppner, Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 504a
Mit dem CoronaStHG IV v. 19.6.2022 wurde die bisherige strikte Regelung zur Abzinsung von Verbindlichkeiten aufgehoben (zur Altregelung siehe Rz. 505ff.), wobei für Rückstellungen andere Bestimmungen gelten (Rz. 373). Ursprünglich basierte die Abzinsung auf der Annahme, dass zinslose Verbindlichkeiten den Stpfl. weniger belasten würden, da ein impliziter Zinsanteil trotz fehlender Zinsvereinbarung vorhanden sei. Aufgrund von Entwicklungen wie Nullzinsen und Strafzinsen hat sich jedoch das wirtschaftliche Umfeld, das dieser Annahme zugrunde lag, grundlegend verändert, was den Gesetzgeber dazu veranlasste, entsprechend zu reagieren. Die Abschaffung dieser Abzinsungsregelung bedeutet jedoch nicht, dass überhaupt keine Abzinsung mehr erforderlich ist. Die Neuregelung in § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist verpflichtend für Wj., die nach dem 31.12.2022 enden. Für vorherige Wirtschaftsjahre kann diese Regelung nur dann angewendet werden, wenn der Stpfl. dies beantragt (§ 52 Abs. 12 S. 2 EStG).
Rz. 504b
Ohne eine explizite rechtliche Regelung zur Abzinsung ist es grundsätzlich weder erforderlich noch zulässig, unverzinsliche (ggf. oder niedrig) verzinsliche Verbindlichkeiten abzuzinsen. Andernfalls würde dies im Widerspruch zum Prinzip der Anschaffungs- und Herstellungskosten sowie zum Realisationsprinzip stehen, da ein noch nicht realisierter Gewinn ausgewiesen würde (Rz. 509). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber eine Abzinsungspflicht ausdrücklich nur für Rückstellungen festgelegt (Rz. 373ff.), was impliziert, dass eine solche Regelung für Verbindlichkeiten nicht gleichermaßen vorgesehen ist. Diese Interpretation entspricht auch dem Handelsrecht; dort ist in § 253 Abs. 2 S. 1 HGB eine Abzinsung ausschließlich für Rückstellungen vorgeschrieben.
Rz. 504c
Eine Verbindlichkeit, die zwingend abzuzinsen ist, stellt eine Rentenverpflichtung dar, die auf das Leben des Begünstigten bezogen ist, wie etwa bei der Übernahme eines Betriebs gegen Rentenzahlung. Laut BFH haben solche Leibrentenverbindlichkeiten keinen Nennwert, der als Anschaffungskosten gelten könnte. Schon vor der Einführung der allgemeinen Abzinsungspflicht in § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG war man sich darüber einig, dass der abgezinste Barwert für die Bewertung solcher Leibrentenverbindlichkeiten heranzuziehen ist. Diese Praxis entspricht auch den handelsrechtlichen Bestimmungen (§ 253 Abs. 2 S. 3 HGB) und bleibt in dieser Form auch nach der Abschaffung der allgemeinen Abzinsungspflicht bestehen.
Rz. 505
Zuvor waren gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG a. F. (Einführung durch das StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999) Verbindlichkeiten grundsätzlich abzuzinsen. Der Zinssatz betrug 5,5 %.
Ausgenommen waren
- Verbindlichkeiten mit einer Laufzeit von weniger als 12 Monaten am Bilanzstichtag,
- verzinsliche Verbindlichkeiten,
- Verbindlichkeiten aus Anzahlungen oder Vorausleistungen.
Abzuzinsen waren somit unverzinsliche Verbindlichkeiten mit einer Restlaufzeit von mehr als 12 Monaten, die nicht aus Anzahlungen oder Vorausleistungen herrührten.
Von der Regelung werden nicht nur Geldschulden, sondern auch andere Verbindlichkeiten, insbesondere Sachleistungsverpflichtungen, erfasst.
Zur Abzinsung von Verbindlichkeiten hatte die Finanzverwaltung eingehend Stellung genommen. Vgl. auch § 6 EStG Rz. 364ff.
Rz. 506
Unverzinslich ist eine Verbindlichkeit, wenn der Schuldner dem Gläubiger kein Entgelt für die zeitweise Überlassung des Kapitals schuldet. Das Entgelt kann in Zinsen, aber auch in einem Damnum oder in Abschluss- und Bearbeitungsgebühren bestehen. Denn aus der (für die Beurteilung des Entgeltscharakters wesentlichen) Sicht des Schuldners sind alle Zahlungen, die er neben der Rückzahlung des Verfügungsbetrags zu leisten hat, Gegenleistungen für die Zurverfügungstellung des Kapitals, auch wenn etwa die Bearbeitungsgebühr für den Gläubiger den Charakter eines Kostenersatzes für die erforderliche Bearbeitung des Darlehens hat.
Eine bestimmte Mindesthöhe der Verzinsung war nicht gefordert. Auch eine minimale Verzinsung oder die Vereinbarung einer geringen Bearbeitungsgebühr dürfte in der Vergangenheit eine Verzinslichkeit zur Folge haben und damit die Abzinsung verhindern. Damit konnte in der Praxis durch Vereinbarung einer Minimalverzinsung die Abzinsungsverpflichtung vermieden werden.
Rz. 507
Verbindlichkeiten ohne Laufzeit konnten nicht abgezinst werden. Abzinsung erfordert die Kenntnis, wann (frühestens) zu erfüllen ist. Ohne hinausgeschobene Fälligkeit kann es keine Abzinsung geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Gläubiger die Leistung erst in späterer Zukunft einfordern wird, etwa weil er bereits längere Zeit stillgehalten hat oder die Existenz der Forderung noch nicht wahrgenommen hat o. Ä., genügt nicht. Kann allerdings die Verbindlichkeit mit Sicherheit nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt eingefordert werden, so hat sie eine durch diesen Zeitpunkt bestimmte Laufzeit, auch wenn nicht sicher ist, ob sie in diesem Zeitpunkt tatsächlich fällig wird.