Rz. 3

§ 75 Abs. 1 EStG regelt lediglich die Aufrechnungsbefugnis der Familienkasse. Familienkassen sind die bisherigen Kindergeldkassen der Arbeitsämter sowie die öffentlichen Arbeitgeber i. S. v. § 72 Abs. 1, 2 EStG.

§ 75 Abs. 1 EStG betrifft lediglich die Aufrechnung eines Erstattungsanspruchs wegen überzahlten Kindergelds mit Ansprüchen des Berechtigten auf noch nicht ausgezahltes Kindergeld. Für die Aufrechnung der Familienkasse gegen einen Anspruch auf Nachzahlung von Kindergeld gilt die Aufrechnungsbeschränkung daher nicht. § 75 EStG gilt auch nicht für die Aufrechnung eines Erstattungsanspruchs wegen überzahlten Kindergelds mit anderen Ansprüchen des Stpfl. Für die Aufrechnung mit anderen Ansprüchen, z. B. Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Besoldungs-, Vergütungs-, Versorgungsansprüche usw. gelten die allgemeinen Regeln nach § 226 Abs. 1 AO, §§ 387ff. BGB unter Beachtung der Pfändungsfreigrenzen.[1] Nach § 394 BGB ist die Aufrechnung gegen eine unpfändbare Forderung ausgeschlossen. § 75 regelt ebenfalls nicht die Aufrechnung des Kindergeldberechtigten mit dem Kindergeldanspruch. Auch hier gilt § 226 AO mit §§ 387ff. BGB.

 

Rz. 4

Die Aufrechnungslage setzt Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der Forderungen voraus. Die Hauptforderung (der Kindergeldanspruch) muss erfüllbar und die Gegenforderung (der Rückzahlungs- bzw. Erstattungsanspruch) muss fällig sein (§ 387 BGB). Dies ist der Fall bei berichtigten oder geänderten Kindergeldfestsetzungen, bei Aufhebungen, Änderungen oder Neufestsetzungen nach § 70 Abs. 2 bzw. Abs. 3 EStG. In der Regel werden diese, den Erstattungsanspruch feststellende, Bescheide eine Zahlungsaufforderung enthalten, aus der sich die Fälligkeit entnehmen lässt.[2] Die Fälligkeit des Erstattungsanspruchs muss im Zeitpunkt des Zugangs der Ausrechnungserklärung eingetreten sein[3]; spätestens muss sie im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung bestanden haben.[4] Höchstrichterlich ungeklärt ist, ob sich die einander gegenüberstehenden Ansprüche (Erstattungs-/Rückzahlungsanspruch der Familienkasse gegen den Kindergeldanspruch des Berechtigten) auf dasselbe Kind beziehen müssen. Aus dem Wortlaut des § 75 Abs. 1 EStG ist kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass eine Identität des Kindergeldanspruchs erforderlich wäre. Vielmehr spricht der Gesetzeswortlaut von Ansprüchen auf Kindergeld (§ 75 Abs. 1 EStG) bzw. vom späteren Kindergeldanspruch des mit dem Erstattungspflichtigen in Haushaltsgemeinschaft lebenden Berechtigten (§ 75 Abs. 2 EStG). Danach kann die Familienkasse z. B. mit einem Anspruch auf Rückzahlung überzahlten Kindergelds für das erste Kind des Berechtigten gegen den laufenden Kindergeldanspruch des Berechtigten für das zweite Kind aufrechnen.[5]

 

Rz. 4a

Eine Abzweigung von Kindergeld gem. § 74 Abs. 1 EStG steht einer Aufrechnung mit Erstattungsansprüchen gegen den Berechtigten nicht entgegen, da die Abzweigung den Kindergeldanspruch in der Person des Berechtigten unberührt lässt.[6] Die Kürzung des auszuzahlenden Kindergelds einerseits dem Berechtigten und andererseits dem Abzweigungsempfänger gegenüber soll entsprechend ihrer Verantwortlichkeit für die Entstehung des Rückzahlungsanspruchs vorgenommen werden, im Zweifel im gleichen Verhältnis.[7]

 

Rz. 5

Die Aufrechnungserklärung ist eine formfreie einseitige Willenserklärung der Familienkasse, kein Verwaltungsakt.[8] Die Wirksamkeit richtet sich daher nach den Vorschriften des BGB. Sie kann daher auch mündlich erklärt werden. Die Aufrechnungserklärung ist auch dann wirksam, wenn die Gegenforderung nicht genau bezeichnet wurde.[9] Die Aufrechnung steht im Ermessen der Familienkasse ("kann"). Das pflichtgemäße Ermessen geht regelmäßig dahin, von der Aufrechnungsmöglichkeit durch Einbehaltung des laufenden Kindergelds Gebrauch zu machen.[10] Die Aufrechnung führt unmittelbar zum Erlöschen der Ansprüche, soweit sie sich betragsmäßig gegenüberstehen. 

 

Rz. 6

Gegen die Aufrechnungserklärung besteht, da sie kein Verwaltungsakt ist, unmittelbar keine Rechtsbehelfsmöglichkeit. Der Kindergeldberechtigte, der sich gegen die Aufrechnung zur Wehr setzen will, kann jedoch bei der Familienkasse die Erteilung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 Abs. 2 AO beantragen.[11] Dagegen ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 AO) gegeben, der zu einer Entscheidung darüber führt, ob und inwieweit die gegenseitigen Ansprüche durch Aufrechnung erloschen sind.[12]

[1] V 27.1 Abs. 1 S. 3 DA-KG 2016.
[2] Pust, in Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 76 EStG Rz. 30.
[5] Felix, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 75 EStG Rz. B 10; Pust, in Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 75 EStG Rz. 23; Wendl, in H/H/R, EStG/KStG, § 75 EStG Rz. 4.
[6] V 27.2 Abs. 1 DA-KG 2016; Pust, in Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 75 EStG Rz. 52; Wendl, in H/H/R, EStG/KStG, § 75 EStG Rz. 4.
[7] V 27.2 Abs. 2 S. 4 DA-KG 2016.

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Finance Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge