Leitsatz
Die EU-Kommission hatte Klage gegen das Vereinigte Königreich erhoben, weil die Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19.12.1977 (mit späteren Änderungen) über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern nicht vollständig auf das Gebiet von Gibraltar angewendet werde.
Sachverhalt
Nach Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie erteilen sich die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geeignet sein können, sowie alle Auskünfte bezüglich der Festsetzung und Erhebung folgender indirekter Steuern: Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer sowie Verbrauchsteuer auf Alkohol, alkoholische Getränke und Tabakwaren.
Nach Artikel 8 Abs. 1 sind die Mitgliedstaaten nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Auskünften verpflichtet, wenn deren Durchführung oder deren Beschaffung oder Verwertung durch die zuständige Behörde des Auskunft gebenden Staates für ihre eigenen steuerlichen Zwecke gesetzliche Vorschriften oder ihre Verwaltungspraxis entgegenstünden.
Gibraltar genießt seit 1830 den Status einer Crown Colony (British Overseas Territory). Für die Stadt gilt die Gibraltar Constitution Order 1969, die sie in ihrer Präambel als "part of Her Majesty's dominions" bezeichnet. Trotz einer umfangreichen Übertragung von Selbstregierungsbefugnissen an demokratisch in der Kronkolonie gewählte lokale Einrichtungen verbleiben der Krone die Zuständigkeiten im Bereich der Außenpolitik, der Verteidigung und der öffentlichen Sicherheit. Nach Artikel 299 EG unterliegt Gibraltar somit grundsätzlich dem Gemeinschaftsrecht, gehört nach Artikel 3 der 6. EG-Richtlinie aber nicht zum Gemeinschaftsgebiet.
Entscheidung
Das Vereinigte Königreich hatte geltend gemacht, dass die Amtshilfe-Richtlinie insofern auf Gibraltar nicht anwendbar sei, als es sich dabei um Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern nach Artikel 93 EG handele, die nach Artikel 28 der Beitrittsakte 1972 gerade nicht auf Gibraltar anwendbar seien. Die EU-Kommission war der Meinung war, dass die Richtlinie keine Harmonisierung der innerstaatlichen Steuervorschriften vornehme. Die Mitgliedstaaten seien verpflichtet gewesen, die geänderte Richtlinie 77/799/EWG für die Mehrwertsteuer spätestens bis zum 1.1.1981 (nach der Richtlinie 79/1070/EWG) und für Verbrauchsteuern spätestens bis zum 1.1.1993 (nach der Richtlinie 92/12/EWG) umzusetzen.
Hinweis
Der EuGH hat entscheiden, dass die Amtshilfe-Richtlinie, soweit sie die Mehrwertsteuer betrifft, auf Gibraltar anwendbar ist. Artikel 28 der Beitrittsakte, wonach die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer auf Gibraltar nicht anwendbar sind, sofern der Rat der Europäischen Union nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt, ist nach dem EuGH-Urteil eng auszulegen. Bestimmungen, die sich darauf beschränken, eine Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten vorzusehen, und es jedem Mitgliedstaat überlassen, für Ermittlungen und die Übermittlung der Auskunft seine eigenen Methoden anzuwenden, können nicht als Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 28 der Beitrittsakte angesehen werden. Nach den weiteren Entscheidungsgründen ist die Amtshilfe-Richtlinie auch anwendbar, soweit die Verbrauchsteuern angesprochen sind.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 21.07.2005, C-349/03