Leitsatz
Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-RL des Rats vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die USt – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass die Übereignung des Warenbestands und der Geschäftsausstattung eines Einzelhandelsgeschäfts unter gleichzeitiger Vermietung des Ladenlokals an den Erwerber auf unbestimmte Zeit, allerdings aufgrund eines von beiden Parteien kurzfristig kündbaren Vertrags, eine Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens im Sinn dieser Bestimmung darstellt, sofern die übertragenen Sachen hinreichen, damit der Erwerber eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit dauerhaft fortführen kann.
Normenkette
Art. 5 Abs. 1 und 8, Art. 6 Abs. 5 EWGRL 388/77 (§ 1 Abs. 1a UStG 1993)
Sachverhalt
S veräußerte den Warenbestand und die Ladeneinrichtung ihres Einzelhandels und vermietete das Geschäftslokal auf unbestimmte Zeit. Sie behandelte die Veräußerung als nach § 1 Abs. 1a UStG nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen. Dies bestätigte – anders als das FA – das FG.
Entscheidung
Der XI. Senat wird die Entscheidung nun im konkreten Fall umsetzen.
Hinweis
Mit Beschluss vom 14.7.2010, XI R 27/08 (BFH/NV 2010, 2213, BFH/PR 2010, 483) hatte der XI. Senat des BFH die Fragen vorgelegt, (1) ob eine "Übertragung" eines Gesamtvermögens i.S.v. Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-RL vorliegt, wenn ein Unternehmer den Warenbestand und die Geschäftsausstattung seines Einzelhandelsgeschäfts an einen Erwerber übereignet und ihm das in seinem Eigentum stehende Ladenlokal lediglich vermietet und (2) ob von Bedeutung ist, dass ein langfristiger Mietvertrag oder jederzeit kündbarer Vertrag auf unbestimmte Zeit vorliegt.
Die Antwort ist: zu 1 Ja und zu 2 Nein.
1."Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens, die entgeltlich oder unentgeltlich oder durch Einbringung in eine Gesellschaft erfolgt" (Art. 5 Abs. 8 Satz 1), ist ein autonomer unionsrechtlicher Begriff. Er dient der Vereinfachung und zielt darauf ab, dass die Mittel des Begünstigten nicht übermäßig steuerlich belastet werden, "zumal er den Betrag der Steuer später durch einen Vorsteuerabzug wiedererlangen würde". Das EuGH-Urteil "Zita-Modes" verlangte "eine Zusammenfassung von materiellen und ggf. immateriellen Bestandteilen, die zusammengenommen ein Unternehmen oder einen Unternehmensteil bilden, mit dem eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann", abzugrenzen vom "bloßen Verkauf eines Warenbestands".
2. Die Quintessenz des EuGH-Urteils ist: Es kommt auf die Art der wirtschaftlichen Tätigkeit, die tatsächliche Möglichkeit der Weiterführung und auf die für den Veräußerer objektiv erkennbare Absicht des Erwerbers zur Weiterführung des Geschäfts an.
3. Die Kriterien: Es gibt wirtschaftliche Tätigkeiten, die kein besonderes Geschäftslokal und/oder keine feste Ladeneinrichtung brauchen. Andererseits kann es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit handeln, die ein Ladenlokal und eine feste Ladeneinrichtung benötigt. Selbst dann kann der Erwerber in (seinen oder gemieteten) anderen Räumen die wirtschaftliche Tätigkeit mit Warenbestand und (!) Ladeneinrichtung weiterführen. Ist für den Veräußerer durch objektiv erkennbare Anhaltspunkte erkennbar, dass der Erwerber die Tätigkeit fortführen will, reicht es aus, dass die Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit objektiv – mithilfe der übertragenen Bestandteile – möglich ist.
Daher steht weder die Zurückbehaltung des Eigentums an dem Geschäftslokal noch die bloße rechtliche Möglichkeit der kurzfristigen Kündbarkeit eines Mietvertrags der Annahme einer Geschäftsveräußerung entgegen.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 10.11.2011 – C-444/10 – Christel Schriever –