Zusammenfassung

 
Begriff

Dem Steuerpflichtigen bleibt es unbenommen, zur Minderung seiner Steuerlast von mehreren Gestaltungsmöglichkeiten die für ihn steuergünstigste zu wählen. Er kann dafür auch einen ungewöhnlichen Weg einschlagen. Der Gesetzgeber billigt eine "unangemessene rechtliche Gestaltung" jedoch dann nicht mehr, wenn sie einen "gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil" erzeugt. Legt das Finanzamt diese Missbrauchselemente dar, kann der Steuerzahler den Vorwurf entkräften, indem er beachtliche außersteuerliche Gründen für die gewählte Gestaltung darlegt. Gelingt dies nicht, entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer angemessenen Gestaltung entstanden wäre. Enthält ein Einzelsteuergesetz eine fallbezogene Missbrauchsregel, verdrängt diese die allgemeine Regel.

 
Gesetze, Vorschriften und Rechtsprechung

Die Rechtsgrundlage für die allgemeine Missbrauchsvorschrift ergibt sich aus § 42 AO. Die ab 2008 neu gefasste Vorschrift ist im Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) erläutert.[1] Die Rechtsprechung hat in zahlreichen Urteilen zur ursprünglichen Gesetzesfassung Kriterien für die Anwendung der Missbrauchsvorschrift entwickelt, die für die Neufassung der Vorschrift ihre Gültigkeit behalten. Einzelfallbezogene Missbrauchsregeln sind in verschiedenen Einzelsteuergesetzen geregelt, u. a. in § 21 Abs. 2 EStG.

[1] AEAO zu § 42 AO.

1 Missbrauchsvorschrift im Einzelsteuergesetz

Steht eine missbräuchliche Gestaltung im Raum, ist zunächst zu prüfen, ob das einschlägige Einzelsteuergesetz eine Regelung enthält, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient. Ist der Tatbestand der Regelung erfüllt, bestimmen sich die Rechtsfolgen allein nach dem Einzelsteuergesetz.

 
Praxis-Beispiel

Verbilligte Wohnungsvermietung

Eltern vermieten eine Wohnung an ihren Sohn zu einem Entgelt unter der ortsüblichen Miete. Die Missbrauchsregelung in § 21 Abs. 2 EStG toleriert den vollen Werbungskostenabzug, wenn die Miete mindestens 66 % der ortsüblichen Marktmiete für Wohnungen vergleichbarer Art, Lage und Ausstattung beträgt.

Die Regelung hat abschließenden Charakter. Deshalb kann bei Entgelten ab 66 % der volle Werbungskostenabzug nicht über die allgemeine Vorschrift des § 42 AO als missbräuchlich abgelehnt werden, obwohl die geringe Miete im Vergleich zur Fremdmiete zu einem Vorteil beim Hausbesitzer führt.

Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 EStG ist bei unentgeltlichem Erwerb dem Einzelrechtsnachfolger für Zwecke der Anwendung von § 23 EStG die Anschaffung oder die Überführung des Wirtschaftsguts in das Privatvermögen durch den Rechtsvorgänger zuzurechnen. Der Hat BFH hierzu entschieden, dass § 23 Abs. 1 Satz 3 EStG eine Missbrauchsverhinderungsvorschrift i. S. v. § 42 Abs. 1 Satz 2 AO ist, d. h. damit ist die Annahme eines Missbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten gem. § 42 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AO für den Fall der Veräußerung nach unentgeltlicher Übertragung grundsätzlich ausgeschlossen.[1]. Hat der Steuerpflichtige daher die Veräußerung eines Grundstücks angebahnt, liegt ein Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten grundsätzlich nicht vor, wenn er das Grundstück unentgeltlich auf seine Kinder überträgt und diese das Grundstück an den Erwerber veräußern; der Veräußerungsgewinn ist dann bei den Kindern nach deren steuerlichen Verhältnissen zu erfassen.

Nur wenn der Tatbestand der einzelgesetzlichen Regelung nicht erfüllt ist oder wenn das Einzelsteuergesetz gar keine Missbrauchsgrenze enthält, kann das Finanzamt in einem weiteren Schritt prüfen, ob ein durch Gestaltung des Vorgangs erzielter Steuervorteil über die allgemeine Missbrauchsvorschrift verhindert werden kann.

[1] IX R 8/20, BStBl. 2021 II S. 743.

2 Allgemeine Missbrauchsvorschrift

Ein Missbrauch liegt nach der gesetzlichen Definition vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Die Angemessenheit ist also gewissermaßen "doppelt" zu prüfen. Es muss eine unangemessene Gestaltung vorliegen. Diese ist sodann mit der hypothetischen steuerlichen Auswirkung einer angemessenen Gestaltung für den jeweiligen Sachverhalt zu vergleichen. Entsteht als Unterschied ein gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil, handelt es sich um Missbrauch.

Ein solcher Gestaltungsmissbrauch hat nur dann strafrechtliche Konsequenzen, wenn auch die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) vorliegen. Dies wird bei missbräuchlichen Gestaltungen im Sinne von § 42 AO eher die Ausnahme sein, weil es sich hier in der Regel um außerhalb einer steuerrechtlichen Pflichtverletzung liegende Gestaltungen handelt, die letztlich über § 42 AO nur steuerrechtich anders zu beurteilen sind.

Eine Gestaltung ist insbesondere dann auf ihre Angemessenheit zu prüfen, wenn sie ohne Berücksichtigung der steuerlichen Effekte unwirtschaftlich, umständlich, kompliziert, überflüssig, ineffektiv oder widersinnig erscheint. § 42 AO kommt jedoch nur dann z...

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