Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Ein Senat des BFH kann ungeachtet früherer abweichender Entscheidung eines anderen Senats zu einer bestimmten Rechtsfrage ohne Anfrage bei diesem Senat oder Anrufung des Großen Senats des BFH nach § 11 Abs. 2 und 3 FGO und damit ohne Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters in der Sache abweichend entscheiden, wenn dieselbe Rechtsfrage zwischenzeitlich durch den EuGH entschieden worden ist und sich der später erkennende Senat dieser Rechtsansicht anschließt.
2. Eine Gerichtsentscheidung, in der eine mögliche Vorlage an den EuGH abgelehnt wird, verstößt nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn das Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Anschluss an BVerfG-Beschlüsse vom 25. Februar 2010 1 BvR 230/09, BVerfGK 17, 108; vom 15. Dezember 2011 2 BvR 148/11, BVerfGK 19, 265; BFH-Beschlüsse vom 4. September 2009 IV K 1/09, BFH/NV 2010 218; vom 14. Januar 2014 III B 89/13, BFH/NV 2014, 521).
3. Eine solche Verletzung des Gebots des gesetzlichen Richters kann mit der Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO i.V.m. § 134 FGO gegen ein Urteil des BFH nicht geltend gemacht werden, das sich ausdrücklich einer Entscheidung des EuGH zu einer in einem anderen Verfahren vorgelegten Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV angeschlossen hat und auf der vertretbaren Überzeugung beruht, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig "acte clair") oder durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt ("acte éclairé").
4. Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 AEUV in diesen Fällen nur dann, wenn das Fachgericht ohne sachlich einleuchtende Begründung eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage bejaht (Anschluss an BVerfG-Beschlüsse vom 8. April 2015 2 BvR 35/12, juris; vom 7. Oktober 2015 2 BvR 413/15, NVwZ 2016, 56; BFH-Beschlüsse vom 11. Mai 2007 V S 6/07BFHE 217, 230, BStBl II 2007, 653, und vom 2. April 2008 I S 5/08, ZSteu 2008, R 747; vom 14. November 2008 II S 9/08, BFH/NV 2009, 211). Daran fehlt es schon dann, wenn sich das Urteil mit der Judikatur des EuGH und den einschlägigen unionsrechtlichen Fragen, soweit der Senat sie für entscheidungserheblich gehalten hat, auseinandersetzt und der Rechtsprechung des EuGH auch unter Berücksichtigung des Umstands folgt, dass die der EuGH-Rechtsprechung vorangegangenen Vorlagebeschlüsse rechtliche Ausführungen enthalten, zu denen der EuGH nicht ausdrücklich Stellung genommen hat.
Normenkette
Art. 63, Art. 64, Art. 267 Abs. 3 AEUV, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 GG, § 11 Abs. 2 und 3, § 134 FGO, § 578, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 18 Abs. 3 Satz 4 AuslInvestmG
Sachverhalt
Die Nichtigkeitsklage betrifft das BFH-Urteil vom 28.7.2015, VIII R 2/09 (BFHE 251, 162, BFH/NV 2016, 280, BFH/PR 2016, 88). Mit diesem hatte der BFH entschieden, dass die Norm des § 18 Abs. 3 AuslInvestmG laut EuGH (EuGH, Urteil vom 21.5.2015, C-560/13, Wagner-Raith, BFH/NV 2015, 1069) wegen der Stand-still-Klausel des Art. 64 AEUV im Verhältnis zu Drittstaaten nicht an der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen sei. Die Regelung sei auch mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren.
Mit der Nichtigkeitsklage rügen die Kläger die Verletzung ihres Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach §§ 578, 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 155 FGO. Der VIII. Senat des BFH hätte vor dem Erlass seiner Entscheidung beim I. Senat anfragen müssen, ob dieser an seinem Urteil vom 25.8.2009 (I R 88, 89/07, BFHE 226, 296, BStBl II 2016, 438, BFH/NV 2009, 2047, BFH/PR 2010, 33) festhalte und ggf. den großen Senat anrufen müssen. Der I. Senat habe in seinem Urteil die gegenteilige Auffassung vertreten, dass § 18 Abs. 3 AuslInvestmG gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoße. Zudem hätte der VIII. Senat dem EuGH u.a. die Frage vorlegen müssen, ob die Besteuerung nach § 18 Abs. 3 AuslInvestmG gegen den allgemein anerkannten europarechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.
Entscheidung
Der BFH hat die Nichtigkeitsklage aus den in den Praxis-Hinweisen erläuterten Gründen als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Eine Nichtigkeitsklage gegen ein Urteil des BFH ist selten. Im Streitfall haben die Kläger mit dieser geltend gemacht, der BFH habe ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Ziel der Nichtigkeitsklage war wohl, den Weg für eine Verfassungsbeschwerde frei zu machen. Nach der älteren Rechtsprechung des BVerfG gehört auch die Wiederaufnahme des Verfahrens mithilfe einer Nichtigkeitsklage zur Erschöpfung des Rechtswegs i.S.d. § 90 Abs. 2 BVerfGG. Dies ist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde.
2. Die Nichtigkeitsklage hatte jedoch keinen Erfolg. Nach Auffassung des VIII. Senats des BFH bestand im vorliegenden Fall keine Verpflichtung, den Großen Senat des BFH oder den EuGH anzurufen. Die von den Klägern für klärungsbedürftig angesehenen Rechtsfragen waren aufgrund des EuGH (EuGH, Urteil vom 21.5.2015, C-560/13, Wagner-Raith,