Sarah Müller, Prof. Dr. Stefan Müller
Rz. 10
Einen absolut wahren Jahresabschluss kann es nicht geben, da die objektive Abbildung eines Unternehmens unmöglich ist – es gibt unvermeidliche Einschätzungsspielräume, insbesondere aus der Unmöglichkeit, die Zukunft richtig vorherzusagen. Ein Jahresabschluss kann nur im Verhältnis zu den Bilanzierungsregeln, also relativ, wahr sein. Dieser Bestandteil der Bilanzwahrheit ist die Richtigkeit.
Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht um eine objektive Wahrheit, sondern nur um eine den Vorschriften entsprechende Wahrheit handelt. Eine Bilanz kann im Prinzip nicht objektiv wahr sein, sondern nur normgemäß richtig. Ein Posten ist hiernach inhaltlich wahr, wenn durch seine Bezeichnung sein Inhalt richtig wiedergegeben wird. Er ist wertmäßig wahr, wenn er in der im Rahmen der jeweiligen Bewertungsvorschrift zutreffenden Höhe ausgewiesen wird. Unter dem Grundsatz der Bilanzwahrheit sind somit die bestandsmäßige und die wertmäßige Richtigkeit der Ausweise als Teilprobleme zu behandeln. Die bestandsmäßige Richtigkeit beinhaltet die Anforderung, dass Vermögen und Kapital vollständig abgebildet sind, die richtigen Mengen jeweils dem Ausweis zugrunde gelegt werden und die vorhandenen Bestände unter der Postenbezeichnung artlich richtig erscheinen (Ansatz). Die bestandsmäßige Richtigkeit beruht zunächst auf der gem. § 246 Abs. 1 HGB geforderten Vollständigkeit der Darstellung. Die wertmäßige Richtigkeit ist gegeben, wenn der Posten in der richtigen Höhe ausgewiesen wird.
Es müssen also folgende Übereinstimmungen bestehen:
- Postenbezeichnung = Posteninhalt,
- Postenhöhe = Postenwert (gem. gesetzlicher Regelung).
Fraglich ist, wann die normgemäße Abbildung als so falsch zu verstehen ist, dass die tatsachengemäße Darstellung der Vermögens-, Finanz und Ertragslage nicht mehr sichergestellt ist und daher zusätzliche Angaben nach § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB im Anhang notwendig werden. Dies fordert der Gesetzgeber zwar in der schärfsten Befehlsform des Gesetzes, doch wird diese "Brücke zum true and fair view" in der deutschen Praxis bislang kaum genutzt. Grund dafür ist, dass, entgegen der bereits in Art. 2 Abs. 5 Satz 1 der 4. EG-RL 78/660/EWG und nun in Art. 4 Abs. 3 und 4 der EU-RL 2013/34 explizierten Regelung, der deutsche Gesetzgeber im Konfliktfall dem getreuen Bild eben keinen Vorrang vor den Einzelvorschriften eingeräumt hat. Daher wird diese Korrekturvorschrift bislang sehr eng in der Weise interpretiert, dass Angaben nur notwendig sind, wenn "der Jahresabschluss trotz Anwendung der gesetzlichen Vorschriften ohne zusätzliche Angaben im Anhang nicht diejenige Aussagekraft erreichen würde, die "ein ordentlicher Kaufmann" von einem gesetzmäßigen Jahresabschluss eines durchschnittlichen Unternehmens, für das die gleichen Rechnungslegungsvorschriften gelten, erwartet." Zu dieser engen Auslegung hat auch die Einschränkung im Gesetzestext auf "besondere Umstände" und nicht zuletzt die insgesamt mangelnde Informationsbereitschaft deutscher Unternehmen geführt. Letztlich stellt diese enge Auslegung auch den Sinn der Vorschrift selbst infrage, bestehen doch bereits in zahlreichen Einzelvorschriften Angabeverpflichtungen. In der Literatur werden daher auch viele Beispiele ausgeführt, bei denen eine Angabe für nötig gehalten wird.