Leitsatz
Lässt das Finanzamt bei der Ausübung des Auswahlermessens bei der Haftungsinanspruchnahme unberücksichtigt, dass neben dem in Anspruch genommenen bestellten Geschäftsführer auch ein faktischer Geschäftsführer vorhanden war, ist der Haftungsbescheid ermessensfehlerhaft und daher materiell rechtswidrig. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet die Behörde, die ihr zur Verfügung stehenden zumutbaren Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung auszuschöpfen.
Sachverhalt
Die Klägerin war alleinige Geschäftsführerin einer GmbH, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Insolvenzverwalter stellte in seinem Bericht fest, dass der Ehemann der Klägerin faktischer Geschäftsführer der GmbH war. Das zuständige Amtsgericht verurteilte die Klägerin und ihren Ehemann in einem Strafrechtsprozess unter anderem wegen Insolvenzverschleppung. Das beklagte Finanzamt nahm die Klägerin wegen Umsatzsteuerschulden der GmbH mit Haftungsbescheid in Anspruch. Es berücksichtigte hierbei den Ehemann als weiteren potentiellen Haftungsschuldner nicht. Die Klägerin hatte in der Haftungsanfrage ihren Ehemann als weiteren faktischen Geschäftsführer nicht angegeben. Sie legte gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein, welchen das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung als unbegründet zurückwies. Ebenso lehnte das Finanzamt den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab und wies den hiergegen gerichteten Einspruch als unbegründet zurück. Das Gericht gab dem Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung statt.
Entscheidung
Nicht nur das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes war für die Klägerin erfolgreich, sondern auch die Hauptsacheentscheidung. Die zulässige Klage war begründet. Der Haftungsbescheid sei zwar formell, jedoch nicht materiell rechtmäßig. Das Auswahlermessen bei der Haftungsinanspruchnahme sei fehlerhaft, weil der Ehemann der Klägerin als weiterer möglicher Haftungsschuldner nicht berücksichtigt werde. Das Finanzamt habe sein Ermessen nicht ausgeübt. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichte die Behörde, die ihr zur Verfügung stehenden zumutbaren Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung auszuschöpfen, insbesondere den Inhalt der Steuer- und Vollstreckungsakten zu beachten. Diese gelte auch dann, wenn die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht durch unzutreffende Angaben in der Haftungsanfrage verletze. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht verringere das Beweismaß, befreie die Behörde jedoch nicht, zumutbare Aufklärungsmaßnahmen zu ergreifen. Das Finanzamt könne Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz ergänzen, sein Ermessen hingegen nicht erstmals ausüben (vgl. § 102 S. 2 FGO). Eine Heilung des Ermessensfehlers scheide daher aus.
Hinweis
Ein Ermessensfehler in Gestalt des Ermessensnichtgebrauchs ist vor dem Finanzgericht nicht mehr zu heilen. Eine Möglichkeit, die Ermessensausübung in der Tatsacheninstanz nachzuholen, besteht also nicht. Das Finanzamt ist hingegen nicht gehindert, in einem neuen Haftungsbescheid die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin ermessensfehlerfrei zu begründen. Die Entscheidung zugunsten der Klägerin könnte im Zweifel nur ein Sieg auf Zeit gewesen sein.
Link zur Entscheidung
FG des Saarlandes, Urteil vom 04.03.2004, 2 K 116/01