Leitsatz
Ist ein Kind getrennt lebender Eltern auf eigenen Entschluss von dem Haushalt eines Elternteils in den Haushalt des anderen Elternteils umgezogen, kann i.d.R. davon ausgegangen werden, dass der andere Elternteil – auch wenn er nicht sorgeberechtigt ist – das Kind i.S.d. § 64 Abs. 2 S. 1 EStG in seinen Haushalt aufgenommen und damit Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds hat, wenn das Kind seit mehr als drei Monaten dort lebt und eine Rückkehr in den Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils nicht von vornherein feststeht.
Normenkette
§ 64 Abs. 2 S. 1 EStG
Sachverhalt
Die sorgeberechtigte Klägerin erhielt für ihre 1988 geborene Tochter Kindergeld. Im August 2003 zog diese zu ihrem beigeladenen Vater, dem geschiedenen Ehemann der Klägerin. Im Januar 2004 kehrte sie in den Haushalt der Klägerin zurück. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von September 2003 bis Januar 2004 auf.
Das FG (FG Münster, Urteil vom 01.12.2005, 3 K 1715/04 Kg, Haufe-Index 1724809, EFG 2007, 1176) wies die Klage ab. Die Tochter sei in den streitigen Monaten nicht mehr in den Haushalt der Mutter aufgenommen gewesen.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision aus den vorgenannten Gründen zurück.
Hinweis
1. Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Erfüllen mehrere Personen die Anspruchsvoraussetzungen, so erhält es, wer das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 S. 1 EStG). Formale Gesichtspunkte wie die Sorgerechtsregelung oder die Eintragung in ein Melderegister sind von allenfalls sekundärer Bedeutung. Abweichende Vereinbarungen der Berechtigten sind unbeachtlich. Bei gleichzeitiger Aufnahme des Kinds in die Haushalte beider getrennt lebender Eltern, angesichts zunehmender Verbreitung des gemeinschaftlichen Sorgerechts nicht mehr ganz selten, können die Eltern aber untereinander den Berechtigten bestimmen (BFH, Urteil vom 23.03.2005, III R 91/03, BFH/NV 2005, 1186, BFH/PR 2005, 286).
2. Die Haushaltsaufnahme erfordert, dass das Kind nicht nur vorübergehend in dem betreffenden Haushalt lebt. Die Aufnahme für einen von vornherein begrenzten, kurzfristigen Zeitraum – etwa zu Besuchszwecken oder in den Ferien – genügt nicht.
3. Ist zum Zeitpunkt des Einzugs unklar, ob das Kind auf Dauer bei dem anderen Elternteil wohnen wird, kann der Wohnungswechsel als Haushaltsaufnahme zu werten sein, wenn sich das Kind dort für einen längeren Zeitraum aufhält. Wird das Kind nach dem Umzug von dem anderen Elternteil betreut, versorgt und unterhalten, begründet dies ein neues Obhutsverhältnis.
4. Dem Zeitmoment kommt für den Wechsel der Kindergeldberechtigung besondere Bedeutung zu. Je länger ein Kind auf eigenen Entschluss und mit Willen des anderen Elternteils in dessen Haushalt lebt, desto mehr spricht dafür, dass dort ein neues Obhutsverhältnis begründet worden ist. Nach dem Besprechungsurteil ist von einem nicht nur vorübergehenden Aufenthalt dann auszugehen, wenn das Kind seit mehr als drei Monaten bei dem anderen Elternteil lebt und eine Rückkehr nicht von vornherein feststeht. Diese Dreimonatsfrist ist letztlich gegriffen. Für sie spricht, dass drei Monate regelmäßig ausreichen, um das Kind mittels einer einstweiligen Anordnung beim Familiengericht zurückzuholen, wenn dies im Kindeswohl liegt, und dass es sich bei drei Monaten um eine "runde" Frist handelt, die dem Doppelten der Sommerferien entspricht.
5. Zieht das Kind für einen unbestimmten Zeitraum zum anderen Elternteil, so ist es vom folgenden Monat an bei diesem zu berücksichtigen, wenn es mindestens drei Monate bleibt. Ob die Dreimonatsfrist beim Konflikt zwischen den Elternteilen auch gilt, wenn der Aufenthalt des Kinds von vorneherein befristet ist, bleibt offen (vgl. BFH, Urteil vom 26.08.2003, VIII R 86/00, BFH/NV 2004, 324).
6. Die Kindergeldberechtigung entfällt dagegen grundsätzlich nicht, wenn das Kind von dem anderen Elternteil widerrechtlich in das Ausland entführt wird, solange die Rückkehr als möglich erscheint (vgl. BFH, Urteil vom 30.10.2002, VIII R 86/00, BFH/NV 2003, 464). Der vom Kind gewollte Umzug zu dem anderen Elternteil ist mit seiner Entführung nicht gleichzusetzen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 25.06.2009 – III R 2/07