Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Änderung eines Kindergeldbescheides bei formeller Bestandskraft
Leitsatz (redaktionell)
- Erklärt die Kindergeldkasse in einem Kindergeldbescheid durch „wichtiger Hinweis”, dass der Kläger die Möglichkeit habe, unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich bei einer Änderung der Einkünfte und Bezüge des Kindes, einen erneuten (rückwirkenden) Antrag auf Kindergeld zu stellen, steht die formelle Bestandskraft des Bescheides dessen rückwirkender Änderung nicht entgegen.
- Bei der Auslegung von Steuerverwaltungsakten kommt es maßgebend auf den objektiven Erklärungsinhalt der Regelung an, wie ihn der Empfänger nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte. Unbeachtlich ist, was die Verwaltung gewollt hat.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4; AO §§ 164, 165 Abs. 1
Streitjahr(e)
2003
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf rückwirkende Änderung der Kindergeldfestsetzung für seinen 1983 geborenen Sohn J hat. Dem Rechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger ist Vater von zwei Söhnen, für die er beide Kindergeld bezogen hat. Der Sohn J hatte nach Ableistung seines Zivildienstes und einer Übergangstätigkeit zum 01.08.2003 eine Lehre als Bankkaufmann begonnen. Für ihn hat die Beklagte (die Familienkasse) bis zum Jahresende 2003 Kindergeld festgesetzt. Nach überschlägiger Prüfung der für das Jahr 2004 zu erwartenden Ausbildungsvergütung hat die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für J mit Bescheid vom 29.06.2004 ab Januar 2004 aufgehoben. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung dieser Verfügung hat die Familienkasse folgenden Text angefügt:
„Wichtiger Hinweis:
Falls nach Ablauf dieses Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen.”
Der Kläger hat gegen diese Verfügung keinen Rechtsbehelf eingelegt.
Nach Bekanntwerden des Beschlusses vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02), in dem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass bei der Ermittlung der kindergeldschädlichen Einkünfte und Bezüge gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) die vom Kind geleisteten Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden können, hat der Kläger unter Bezugnahme auf diese Entscheidung am 13.08.2005 für seine beiden Söhne einen Antrag auf rückwirkende Zahlung von Kindergeld gestellt. Auf den Antrag für den Sohn J hat die Familienkasse mit Bescheid vom 19.09.2005 Kindergeld für die Zeit von Juni bis Dezember 2004 festgesetzt und die Ablehnung der Kindergeldzahlung für die erste Jahreshälfte damit begründet, dass für diesen Zeitraum eine bestandskräftige Aufhebung der Kindergeldfestsetzung (Bescheid vom 29.06.2004) vorliege. Den dagegen eingelegten Einspruch hat die Familienkasse mit Entscheidung vom 18.11.2005 als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vorliegende Klage.
Zur Begründung der Klage bezieht sich der Kläger auf den „wichtigen Hinweis” aus dem Bescheid vom 29.06.2004 und vertritt hierzu die Auffassung, die Familienkasse habe mit diesem Hinweis den Eindruck erweckt, dass der Bescheid nicht endgültig sein solle, sondern jederzeit geändert werden könne. Der Hinweis habe damit praktisch die Wirkung eines Verwaltungsaktes erhalten, der unter den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abgabenordnung (AO) oder vorläufig nach § 165 AO ergangen sei. So jedenfalls habe er, der Kläger diesen Hinweis verstehen dürfen, auch wenn der Bescheid vom 29.06.2004 keinen ausdrücklichen Vorbehalts- oder Vorläufigkeitsvermerk enthalten habe. Wenn die Familienkasse dem Hinweis eine andere Bedeutung beigemessen habe, dann gehe die unklare Formulierung zu Lasten der Behörde. Da diese mit dem Hinweis den Eindruck der jederzeitigen Änderbarkeit des Bescheids vom 29.06.2004 erweckt habe, könne die Kindergeldfestsetzung für 2004 auch dann geändert werden, wenn keine spezielle Änderungsvorschrift eingreife.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Kindergeldfestsetzung vom 19.09.2005 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2005 zu ändern und Kindergeld für den Sohn J auch für die Monate Januar bis Juni 2004 festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie vertritt, wie bereits im Einspruchsverfahren, die Auffassung, mit dem Bescheid vom 29.06.2004 sei die Kindergeldfestsetzung für den Sohn J im ersten Halbjahr 2004 bestandskräftig aufgehoben worden. Der diesen Bescheid beigefügte Hinweis könne auch dann nicht zu einer Durchbrechung der Bestandskraft führen, wenn man darin eine vorläufige oder eine unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steuerfestsetzung sehen wollte. Denn auch unter diesen Voraussetzungen wäre eine Änderungsmöglichkeit nur dann eröffnet, wenn sich die Höhe der Ausbildungsvergütung des Sohnes J gegenüber die Prognoseen...