3.1 Überblick über europarechtliche Vorgaben der ATAD-RL
Durch Art. 5 Abs. 1 ATAD werden alle EU- und EWR-Staaten zur Einführung einer Entstrickungsbesteuerung (nur) für Kapitalgesellschaften verpflichtet. Dabei sehen Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie für EU- bzw. EWR-Fälle eine ratierliche Zahlungsstundung über 5 Jahre vor, d. h. die Richtlinie gewährt dem Abgangsstaat wegen des Wegfalls des Besteuerungsrechts grundsätzlich das Besteuerungsrecht bezüglich der stillen Reserven. Korrespondierend soll der Wertansatz eines Staates, der die Entstrickungsbesteuerung anwendet, im anderen Staat anerkannt werden (Wertverknüpfung), sofern der Wertansatz des Wegzugsstaats dem Marktwert entspricht. Ansonsten hat der aufnehmende Staat das Wirtschaftsgut mit dem Marktwert anzusetzen. Die zu gewährende Zahlungsstundung gibt dem Wegzugsstaat auch das Recht die Stundung verzinslich bzw. mit Sicherheiten versehen auszugestalten. Abweichend vom (bisherigen) nationalen Recht sind auch Widerrufstatbestände bei Gefährdung des Steueranspruchs vorgesehen.
3.2 Eckwerte der nationalen Umsetzung durch das ATAD-UmsG 2022
Ungeachtet der vorgegebenen Zahlungsstundung auf 5 Jahre bleibt der deutsche Gesetzgeber bei der bisherigen Grundkonzeption der Realisierung bei einem Entstrickungsvorgang, gewährt aber Abmilderung der Auswirkungen durch die bilanzielle Rücklagenbildung in § 4g EStG ("bilanzielle Stundung") und für Sonderfälle wie bisher der Zahlungsstundung in § 36 EStG. Im Hinblick auf die Wirkung dürfte dies europarechtskonform sein, vermeidet aber die nicht praktikable Stundung der Gewerbesteuer bei Zerlegungsfällen. Um den allgemeinen europarechtlichen Anforderungen zu genügen, erfolgen aber folgende Änderungen:
- § 4g EStG n. F. erfasst sämtliche Wirtschaftsgüter (des Anlage- und Umlaufvermögens);
- neben den EU- sind auch EWR-Staaten begünstigt;
- und die Neuregelung gilt sowohl für unbeschränkt als auch – neu – für beschränkt Steuerpflichtige.
Hinsichtlich der Verstrickung bleibt es bei der Grundkonzeption, wonach nach § 4 Abs. 1 Satz 8 Halbsatz 2 EStG 2022 einer Einlage die Begründung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts gleichsteht. Infolgedessen erfolgt bei Begründung des deutschen Besteuerungsrechts eine fingierte Einlage des Wirtschaftsguts in das Betriebsvermögen. Die Bewertung hat gem. § 6 Abs. 1 Nr. 5a EStG zum gemeinen Wert zu erfolgen. Darüber hinaus findet die Verstrickungsbesteuerung ab 2022 auch Anwendung, wenn das inländische Besteuerungsrecht bestärkt wird. Relevant ist dies in Fällen mit Anrechnungsbetriebsstätte und in Fällen, in denen kein DBA geschlossen wurde.
3.3 Einzelheiten der Regelung ab 2022
3.3.1 Tatbestände einer vorzeitigen gewinnerhöhenden Auflösung
Der Ausgleichsposten ist nach § 4g Abs. 2 EStG 2022 vollständig aufzulösen, wenn ein Ereignis i. S. d. § 36 Abs. 5 Satz 4 EStG eintritt oder ein Steueranspruch aus der Auflösung des Ausgleichspostens gefährdet erscheint. Ferner erhält das zuständige Finanzamt die Möglichkeit, bei Gefährdung des Steueranspruchs aus der Auflösung des Ausgleichspostens vom Steuerpflichtigen eine Sicherheit zu verlangen. Wird diese vom Steuerpflichtigen nicht gestellt, ist der Ausgleichsposten ebenfalls im vollen Umfang gewinnerhöhend aufzulösen. Weitere schädliche Ereignisse i. S. d. § 36 Abs. 5 Satz 4 EStG sind:
- wenn ein Wirtschaftsgut veräußert, entnommen, in einen nicht EU/EWR-Staat überführt oder verdeckt in eine Kapitalgesellschaft eingelegt wird,
- wenn der Betrieb oder Teilbetrieb während dieses Zeitraums eingestellt, veräußert oder in einen nicht EU/EWR-Staat verlegt wird,
- wenn der Steuerpflichtige aus der inländischen unbeschränkten Steuerpflicht oder der unbeschränkten Steuerpflicht in einem anderen EU/EWR-Staaten ausscheidet oder in einem anderen als einem EU/EWR-Staaten ansässig wird,
- wenn der Steuerpflichtige Insolvenz anmeldet oder der Betrieb abgewickelt wird oder
- wenn der Steuerpflichtige seinen Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Ratenzahlungen nicht nachkommt und hierbei über einen angemessenen Zeitraum (der 12 Monate nicht überschreiten darf), keine Abhilfe hinsichtlich seiner kritischen Situation schafft.
3.3.2 Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs des § 4g EStG
Bei der bisherigen Ausgestaltung von § 4g EStG a. F. war insbes. strittig, ob die Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs auf unbeschränkt Stpfl. und damit in der Praxis sogenannte Rücküberführungen von Wirtschaftsgütern innerhalb von EU-Mitgliedstaaten zu Recht nicht begünstigt waren. Die EU-Kommission hatte diesbezüglich unter dem Gesichtspunkt der Freizügigkeit ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Die österreichische Kapitalgesellschaft X-GesmbH hat eine Fabrikationsbetriebsstätte in Stuttgart. Sie ist damit nach § 2 Nr. 1 KStG i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG und § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG in Deutschland beschränkt steuerpflichtig. Ein Wirtschaftsgut wird aus der deutschen Betriebsstätte in das österreichische Stammhaus überführt. Es kommt zu einem Ausschluss des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Die Rechtsfolge ist eine Entstrickung. Die Stundung über den Ausgleichsposten nach § 4g EStG a. F. wurde in seiner bisherigen Fassung nicht gewährt...