Leitsatz
1. Ein Klageverfahren, in dem der Kläger den Erlass von Säumniszuschlägen zur Grundsteuer wegen der möglichen Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung begehrt, ist nicht deshalb nach § 74 FGO auszusetzen, weil der BFH dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über die Einheitsbewertung ab 2008 vorgelegt hat.
2. Die beim BVerfG anhängigen Verfahren rechtfertigen keine AdV von Einheitswertbescheiden und damit auch keinen Erlass von Säumniszuschlägen zur Grundsteuer.
Normenkette
§ 69, § 74 FGO, § 227, § 240 Abs. 1, § 361 AO, Art. 3 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Das FA erließ gegenüber dem Kläger auf der Basis der Einheitsbewertung Fortschreibungsbescheide sowie Grundsteuermess- und Grundsteuerbescheide (Berlin). Da der Kläger die Grundsteuer nicht bei Fälligkeit entrichtete, fielen Säumniszuschläge an.
Die im Hinblick auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung gestellten Anträge des Klägers, den Einheitswert aufzuheben und AdV zu gewähren, lehnten das FA und das FG ab. Das FA lehnte auch den Antrag auf Stundung offener Grundsteuerbeträge ab.
Sowohl FA als auch FG haben auch den Erlass der Säumniszuschläge abgelehnt. Die Zahlungspflicht des Klägers sei durch die Ablehnung der AdV und der Stundung bestätigt worden.
Gegen die finanzgerichtliche Entscheidung hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde im Hinblick auf grundsätzliche Bedeutung bzw. Rechtsfortbildung erhoben.
Entscheidung
Die Beschwerde hatte keinen Erfolg; die vom Kläger gerügten Mängel liegen nicht vor.
Das FG (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.3.2016, 3 K 3271/15) musste das Klageverfahren nicht aussetzen. Ein Verfahrensmangel im Hinblick auf anhängige Verfahren bei dem BVerfG scheidet aus. Zwar kann bei Vorliegen eines Musterverfahrens insbesondere auch bei dem BVerfG eine Aussetzung des aktuellen Klageverfahrens geboten sein. Der Streitfall um den Erlass von Säumniszuschlägen ist jedoch kein Musterverfahren im vorstehenden Sinn. Denn Säumniszuschläge sind wegen sachlicher Unbilligkeit nur zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben wird und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV des Steuerbescheids zu erreichen, das FA oder das FG aber die Aussetzung "obwohl möglich und geboten" abgelehnt hat. Ein Erlass kommt nicht in Betracht, wenn die Vollziehung zu Recht nicht ausgesetzt worden ist.
Vorliegend wurde die Gewährung einer AdV zu Recht abgelehnt, wie eine Abwägung der beteiligten Interessen ergibt. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes rechtfertigen im Allgemeinen eine AdV. Bei Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzesvorschrift setzt die AdV jedoch ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung voraus, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Die AdV des Einheitswertbescheids war danach trotz ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit nicht zu gewähren. Die Bedeutung und Schwere des durch die Vollziehung der Grundsteuerbescheid im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Kläger sind unter Berücksichtigung der Höhe der Steuer eher gering.
Hinweis
Der Besprechungsfall betrifft im Kern die mögliche Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung. Verfahrensrechtlich zeigt er das Ineinandergreifen von Aussetzung der Vollziehung (AdV), Erlass von Säumniszuschlägen – um die eigentlich gestritten wird – und Aussetzung des Klageverfahrens wegen eines Musterverfahrens.
1. Der BFH hält die Vorschriften über die Einheitsbewertung spätestens ab dem Bewertungsstichtag 1.1.2008 (vgl. Vorlageverfahren BVerfG 1 BvL 1/15) bzw. 2009 (1 BvL 11/14) für verfassungswidrig, weil die Maßgeblichkeit der Wertverhältnisse am Hauptfeststellungszeitpunkt 1.1.1964 für die Einheitsbewertung zu Folgen führt, die mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht mehr vereinbar sind.
2. Hier könnte es nahe liegen, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Besteuerung zu haben.
Es ist jedoch zu beachten, dass eine AdV im Hinblick auf verfassungsrechtliche Bedenken grundsätzlich nicht ohne Weiteres zu gewähren ist. Vielmehr kommt es einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an (vgl. BFH, Beschluss vom 15.6.2016, II B 91/15, BStBl II 2016, 846, BFH/NV 2016, 1391 m.w.N.).
3. Wenn freilich eine AdV zu Recht abzulehnen ist, kommt regelmäßig auch kein Erlass von Säumniszuschlägen wegen sachlicher Unbilligkeit in Betracht (vgl. BFH, Urteil vom 10.3.2016, III R 2/15, BStBl II 2016, 508, BFH/NV 2016, 1082, Rz. 31). Insoweit liegt auch kein "Musterverfahren" vor, das eine Aussetzung des Klageverfahrens mit sich bringen könnte.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 2.3.2017 – II B 33/16