Leitsatz
§ 130 Abs. 2 Nr. 4 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben (intendiertes Ermessen). Deshalb ist eine Anrechnungsverfügung im Allgemeinen im Interesse von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen, wenn der Begünstigte deren Rechtswidrigkeit erkannt oder lediglich infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Diese Regelfolge des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO ist grundsätzlich nicht begründungsbedürftig.
Normenkette
§ 5, § 130, § 218 Abs. 2 AO, § 36 Abs. 2 EStG
Sachverhalt
In mehreren Anrechnungsverfügungen zu bestandskräftigen ESt-Bescheiden hatte das FA von seinerzeit zusammen veranlagten Eheleuten geleistete Vorauszahlungen in voller Höhe zugunsten des Ehemanns angerechnet. Als die inzwischen geschiedene Ehefrau dagegen Einwendungen erhob, korrigierte das FA dies in einem Abrechnungsbescheid und rechnete die Vorauszahlungen nur zur Hälfte auf die ESt-Schuld des Ehemanns an.
Der hiergegen erhobene Einspruch hatte keinen Erfolg, weil das FA die Auffassung vertrat, eine Bindung an die Anrechnungsverfügungen bestehe nicht, weil § 218 Abs. 2 AO eine gegenüber §§ 130, 131 AO vorgreifliche Sonderregelung darstelle.
Das FG hob jedoch den Abrechnungsbescheid auf (EFG 2007, 394), weil es Ermessenserwägungen des FA vermisste, die erforderlich gewesen seien, weil die Anrechnungsverfügungen Bindungswirkung hätten, die nur deren – allerdings zulässige – Rücknahme nach § 130 Abs. 2 AO beseitigen könne.
Entscheidung
Der BFH hat das Urteil des FG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Da der Ehemann die Unrichtigkeit der Anrechnungsverfügungen erkannt habe, sei das Rücknahmeermessen des FA auf null reduziert gewesen. Die im Abrechnungsbescheid liegende Rücknahme der Anrechnungsverfügungen habe daher erfolgen müssen. Ermessenserwägungen hätten dazu nicht angestellt, folglich auch nicht dargelegt werden müssen.
Hinweis
1. Die Anrechnung der Vorauszahlungen gem. § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG ist nach der Rechtsprechung nicht nur eine Kassenmitteilung, sondern ein Verwaltungsakt. Der I. Senat des BFH ist allerdings der Meinung, aufgrund des § 218 Abs. 2 AO könne sich das FA in einem Abrechnungsbescheid über diesen Verwaltungsakt gleichsam hinwegsetzen, die (spätere) Abrechnung gehe als der Anrechnung sachlich vor. Der VII. Senat des BFH hat sich dieser Betrachtungsweise (jedenfalls bisher) nicht angeschlossen, kommt jedoch i.d.R. zu gleichen Ergebnissen: Denn eine unrichtige Anrechnungsverfügung kann (selbstverständlich) zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO vorliegen. Und dies ist meist der Fall, weil der Bestandsschutz, den Verwaltungsakte wie Anrechnungsverfügungen genießen, sehr eingeschränkt ist. Er besteht insbesondere nicht, wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit der Anrechnung erkannt hat oder zumindest erkennen musste (Maßstab der groben Fahrlässigkeit).
2. Rechnet das FA abweichend von einer vorherigen Anrechnungsverfügung ab, liegt darin selbstredend eine Rücknahme der Anrechnungsverfügung (selbst wenn sich das FA dessen gar nicht bewusst sein sollte). Ist diese Rücknahmeentscheidung aber auch rechtmäßig, ohne dass das FA Ermessen ausübt?
3. Das ist nach der Besprechungsentscheidung in der Tat der Fall. Denn wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit der Anrechnung erkannt hat oder zumindest erkennen musste, muss das FA die Anrechnungsverfügung zurücknehmen (auch wenn es in anderen Fällen ein Rücknahmeermessen hat). Das gebietet die Gleichmäßigkeit der Steuererhebung.
4. Hat das FA mithin in Fällen wie dem Besprechungsfall gar kein Rücknahmeermessen, handelt es sich mit anderen Worten um eine sog. gebundene Entscheidung. Es ist dann ohne Belang, wenn es gar nicht erkannt hat, dass seine Entscheidung nur auf § 130 Abs. 2 AO gestützt werden kann.
5. Die Rücknahmeentscheidung bedarf dann ferner auch keiner Begründung, jedenfalls könnte sie nicht mangels Begründung aufgehoben werden (vgl. § 126 AO).
6. Verwechseln Sie einen solchen Fall nicht mit dem in § 102 FGO geregelten, also dem (sehr begrenzt zulässigen) Nachschieben von Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren! Es geht hier nicht um ergänzungsbedürftige Ermessenserwägungen, sondern um das – jederzeit im gerichtlichen Verfahren zulässige und von Amts wegen gebotene ("iura novit curia") – Auswechseln der Rechtsgrundlage bei einer reinen Rechtsentscheidung.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.6.2007, VII R 35/06