Leitsatz
Für ein behindertes, über 27 Jahre altes Kind besteht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG kein Anspruch auf Kindergeld, wenn die Behinderung nach Ablauf des 27. Lebensjahrs eingetreten ist. Diese Altersgrenze, innerhalb derer die Behinderung eingetreten sein muss, ist nicht aufgrund entsprechender Anwendung des § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG oder aufgrund verfassungskonformer Auslegung um den Zeitraum des vom Kind in früheren Jahren geleisteten einjährigen Grundwehrdiensts auf 28 Jahre zu verlängern.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG , § 32 Abs. 5 EStG
Sachverhalt
Der Sohn des Klägers erlitt im Alter von 27 Jahren einen Unfall und ist seitdem schwerstbehindert. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag ab, da die Behinderung nicht vor der Vollendung des 27. Lebensjahrs eingetreten sei.
Entscheidung
Der BFH bestätigte ebenso wie schon zuvor das FG die Familienkasse. Die Ausweitung der Altersgrenze für behinderte Kinder entgegen dem Gesetzeswortlaut lässt sich weder auf eine Analogie zu der Verlängerungsregelung für Kinder in Ausbildung noch auf verfassungsrechtliche Überlegungen stützen.
Hinweis
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Kindergeld gewährt, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Mit Wirkung ab 2000 verlangt das Gesetz ausdrücklich, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahrs eingetreten ist. Nach § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG verlängert sich die für Arbeit suchende Kinder geltende 21-Jahres-Grenze (Abs. 4 Nr. 1) bzw. die für Kinder in Ausbildung geltende 27-Jahres-Grenze um Verlängerungszeiten, insbesondere um den Wehrdienst oder Zivildienst sowie um andere gleichgestellte Dienstleistungen.
Die Höchstaltergrenze von 27 Jahren für die Berücksichtigung eines behinderten Kindes kann weder in analoger Anwendung der Verlängerungsregelung noch aufgrund verfassungsrechtlicher Überlegungen – entgegen dem Gesetzeswortlaut – um die Zeiten der entsprechenden Dienstleistungen ausgeweitet werden.
Eine Auslegung gegen den Wortlaut kommt nur in engen Grenzen in Betracht. Sie setzt voraus, dass die wörtliche Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde. Eine analoge Anwendung verlangt eine gemessen an dem Gesetzeszweck ergänzungsbedürftige Regelung in dem Sinn, dass eine Ergänzung nicht der vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht.
Beide Voraussetzungen fehlen hier. Zum einen ist der Gesetzeswortlaut eindeutig. Zum anderen entspricht die Aufnahme der Altersgrenze in die Regelung ab 2000 der Absicht des Gesetzgebers, an die frühere Rechtsprechung des BSG zum sozialrechtlichen Kindergeld anzuknüpfen, nach der ein Kindergeldanspruch nur bestand, wenn die Behinderung vor dem 27. Lebensjahr eingetreten war. Außerdem verfolgt die Verlängerungsregelung in § 32 Abs. 5 EStG über das 27. Lebensjahr hinaus einen anderen Zweck. Damit soll die Verzögerung der Ausbildung wegen der Absolvierung des Wehrdiensts bzw. eines entsprechenden Diensts ausgeglichen werden. Dagegen soll durch die Altersgrenze für behinderte Kinder ausgeschlossen werden, dass diese, wenn für sie z.B. wegen Abschluss der Ausbildung oder wegen Überschreitung der Altersgrenze kein Kindergeldanspruch mehr besteht, durch eine später eingetretene Behinderung wieder berücksichtigt werden.
Auch eine verfassungskonforme Auslegung i.S.d. Verlängerung der Altersgrenze scheidet aus. Die Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit ist gewahrt. Denn für ein Kind, dessen Behinderung nach dem 27. Lebensjahr eingetreten ist, sind die Unterhaltszahlungen der Eltern und die behinderungsbedingten Aufwendungen des Kindes nach § 33a bzw. § 33b EStG zu berücksichtigen. Dadurch ist gewährleistet, dass das für die Existenzsicherung auch eines über 27 Jahre alten behinderten Kindes erforderliche Einkommen von der Besteuerung freigestellt wird.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 2.6.2005, III R 86/03