Leitsatz
Der Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht für ein im EU-Ausland lebendes Kind ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen, wenn für das Kind ein Anspruch auf ausländische Leistungen besteht, die dem Kindergeld vergleichbar sind, und der Anspruchsteller nicht vom Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 erfasst wird, weil er nicht in einem Sozialversicherungssystem versichert ist.
Normenkette
§ 32 Abs. 3, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 66 EStG, Art. 1 Buchst. a, Art. 2 Abs. 1, Art. 13 ff. VO (EWG) Nr. 1408/ 71, Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72
Sachverhalt
Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige, lebte in Deutschland und übte hier ein Gewerbe aus. Sie war weder in Deutschland noch in Polen sozialversichert. Ihr nicht erwerbstätiger Ehemann wohnte mit den drei gemeinsamen, 1982, 1988 und 1989 geborenen Kindern in Polen. Im streitigen Zeitraum – Juni 2005 bis Juli 2006 – standen ihm polnische Familienleistungen für die Kinder zu.
Das von der Klägerin in Deutschland beantragte Kindergeld setzte die Familienkasse im Februar 2006 ab Juni 2005 für die drei Kinder auf jeweils 77 EUR monatlich fest, d.h. i.H.d. Hälfte des damals gesetzlich vorgesehenen Betrags. Der gegen den Bescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg. Während des anschließenden Klageverfahrens half die Familienkasse hinsichtlich der 1982 geborenen Tochter ab und gewährte für diese das volle Kindergeld.
Die auf das volle Kindergeld gerichtete Klage für die beiden anderen Kinder hatte keinen Erfolg (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.12.2012, 4 K 4176/06 B, Haufe-Index 3710882).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Wer seinen Wohnsitz in Deutschland hat, kann für seine in anderen EU-Ländern (hier: Polen) lebenden Kinder Kindergeld beanspruchen.
2. Ein Anspruch auf Kindergeld wird durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen, wenn für das Kind im Ausland vergleichbare Leistungen gezahlt werden oder bei Antragstellung zu zahlen wären.
3. Da die klagende Mutter der Kinder weder in Deutschland noch in Polen in einem Zweig der Sozialversicherung versichert war, war der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 für sie nicht eröffnet. Die Koordinierungsregelungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 und die Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der VO Nr. 574/72 waren daher nicht einschlägig.
4.Ein Anspruch auf volles Kindergeld, d.h. entsprechend der Sätze des § 66 EStG, ergibt sich auch nicht aus dem Primärrecht der EU. Der EuGH hat zwar in der Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak (EuGH, Urteil vom 12.6.2012, C‐611/10, C‐612/10, DStRE 2012, 999) entschieden, dass es mit der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu vereinbaren ist, wenn in den Fällen, in denen nach den Koordinierungsregelungen der VO Nr. 1408/71 ein ausländischer Mitgliedstaat zur Gewährung von Familienleistungen zuständig ist, der Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld durch eine nationale Antikumulierungsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen wird. Dies kann aber nicht auf selbstständig tätige Personen übertragen werden, die nicht vom Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst werden. Denn der vom EuGH genannte erste Erwägungsgrund zu der Verordnung, wonach diese zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Wanderarbeitnehmer beitragen soll, trifft auf nicht sozialversicherte Selbstständige nicht zu. Im Urteil vom 18.12.2013, III R 52/11 (BFH/NV 2014, 851) hatte der BFH das noch offengelassen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.11.2014 – III R 1/13