Leitsatz
Erfährt der Steuerpflichtige während des Einspruchsverfahrens, dass eine anderweitige Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts nicht in Betracht kommt, und nimmt er die Gelegenheit, gegen die geänderte Auffassung der Finanzbehörde vorzugehen, nicht wahr, findet § 174 Abs. 3 Satz 1 AO später keine Anwendung.
Normenkette
§ 174 Abs. 3 AO
Sachverhalt
Der Kläger übernahm für eine GmbH, für die er selbstständig tätig war, eine Bürgschaft. Er wurde wegen des Konkurses der GmbH aus der Bürgschaft in Anspruch genommen.
Er nahm zur Begleichung der Bürgschaftsschuld im Jahr 1999 ein Darlehen auf und machte seine gesamten Zahlungen als Betriebsausgaben geltend. Das FA erkannte in dem Steuerbescheid für 1999 nur die Tilgungsrate für das Darlehen sowie sonstige Kosten mit der Begründung an, die Bereitstellung eines Darlehens stelle keinen Abfluss dar. Die Kläger legten Einspruch ein.
Das FA teilte unter Androhung einer Verböserung mit, dass es nunmehr die Bürgschaftsaufwendungen überhaupt nicht mehr anerkennen wolle, da sie nicht betrieblich veranlasst seien. Die Kläger nahmen den Einspruch zurück.
Danach erging für das Jahr 1999 ein Änderungsbescheid gem. § 165 Abs. 2 AO, in dem ein bisher berücksichtigter Verlust aus einer anderen Tätigkeit nicht mehr erfasst wurde.
Die Kläger legten Einspruch ein und beantragten, im Weg der Änderung gem. § 174 Abs. 3 AO die gesamten Bürgschaftsaufwendungen zu berücksichtigen.
Das FG wies die Klage bezüglich des Verpflichtungsantrags ab.
Da das FA im Einspruchsverfahren von seiner ursprünglich vertretenen Auffassung abgerückt sei und klargestellt habe, dass es einen Abzug der Bürgschaftsaufwendungen überhaupt nicht mehr zulassen wolle, habe erkennbar festgestanden, dass es die Aufwendungen nicht in einem anderen Steuerbescheid habe berücksichtigen wollen (EFG 2006, 1032).
Entscheidung
Der BFH teilte die Auffassung des FG.
Die Kläger hätten von der geänderten Rechtsauffassung des FA im Einspruchsverfahren erfahren und die Möglichkeit gehabt, die Richtigkeit dieser geänderten Auffassung in diesem Verfahren prüfen zu lassen.
Hinweis
1. Gem. § 174 Abs. 3 Satz 1 AO kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden, als ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt.
2. Bisher war noch nicht entschieden, ob eine Änderung nach dieser Vorschrift auch dann vorzunehmen ist, wenn das FA zwar bei Erlass des Steuerbescheids einen bestimmten Sachverhalt deshalb nicht berücksichtigt hatte, weil es der Meinung gewesen war, dass er in den Folgejahren zu berücksichtigen sei, wenn es dem Kläger aber im Einspruchsverfahren mitgeteilt hat, dass seine ursprüngliche Auffassung falsch gewesen und der Sachverhalt richtigerweise steuerlich überhaupt nicht zu berücksichtigen sei und es eine Verböserung (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO) vornehmen wolle, falls der Einspruch nicht zurückgenommen werde.
Nimmt der Steuerpflichtige zur Vermeidung der Verböserung den Einspruch zurück, stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem bei § 174 Abs. 3 AO der bestimmte Sachverhalt erkennbar nicht berücksichtigt worden sein darf. Ist der Erlass des Steuerbescheids oder der Zeitpunkt der Rücknahme des Einspruchs maßgebend?
3. Die Antwort auf diese Frage ergibt sicht aus dem Zweck des § 174 Abs. 3 AO. Es soll dem Betroffenen eine Änderungsmöglichkeit eingeräumt werden, wenn er auf eine irrige Rechtsansicht des FA vertraut hat und ohne Änderungsmöglichkeit seine Rechte nicht weiter verfolgen könnte. Der die Änderungsmöglichkeit legitimierende Vertrauensschutzgedanke trägt aber nicht, wenn das FA dem Steuerpflichtigen zu einem Zeitpunkt die Änderung seiner Rechtsauffassung mitteilt, in dem der Bescheid noch nicht bestandskräftig ist und der Steuerpflichtige durch Aufrechterhaltung seines Einspruchs eine Klärung der Streitfrage herbeiführen kann.
4. Der Steuerberater befindet sich nach dem Verböserungshinweis in dem Dilemma des Spatzes in der Hand oder der Taube auf dem Dach:
Nimmt er den Einspruch zurück, behält der Mandant wenigstens den teilweisen Betriebsausgabenabzug, den das FA – auf der Grundlage seiner geänderten Rechtsauffassung zu Unrecht – gewährt hat.
Nimmt er den Einspruch nicht zurück, hat er zwar die Chance, in einem späteren Klageverfahren alles zu gewinnen (hier: Abzug der gesamten Bürgschaftszahlungen als Betriebsausgabe), er läuft aber Gefahr, auch noch den bislang gewährten teilweisen Betriebsausgabenabzug zu verlieren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 6.12.2006, XI R 62/05