Leitsatz
1. Hat die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrags nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bestandskräftig abgelehnt, bleibt die Bestandskraft dieses Bescheids durch eine spätere Entscheidung des BVerfG unberührt, nach der im Weg verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Einkünfte des Kinds um die von ihm gezahlten Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mindern sind.
2. Nach § 70 Abs. 4 EStG kann ein die Festsetzung von Kindergeld ablehnender Bescheid nur geändert oder aufgehoben werden, wenn er vor Beginn oder während des Kalenderjahrs als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kinds im Kalenderjahr ergangen ist, nicht aber, wenn die Festsetzung von Kindergeld für ein abgelaufenes Kalenderjahr abgelehnt worden ist.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 2, § 70 Abs. 2 bis 4 EStG
Sachverhalt
Der Kläger hatte 2003 für seinen Sohn Kindergeld für 2002 beantragt. Dies lehnte die Familienkasse mit bestandskräftigem Bescheid unter Hinweis auf das Überschreiten des Grenzbetrags ab.
Im Juli 2005 beantragte der Kläger erneut rückwirkend für 2002 Kindergeld, da nach der Berechnung des BVerfG die Sozialversicherungsbeiträge nicht auf die Ausbildungsvergütung des Sohns anzurechnen seien und somit der Grenzbetrag nicht überschritten sei.
Entscheidung
Der BFH sah, da der Ablehnungsbescheid erst nach Jahresablauf ergangen war, keine Korrekturmöglichkeit und bestätigte daher das klageabweisende Urteil des FG.
Hinweis
Ein in Berufsausbildung befindliches volljähriges Kind wird für das Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag nur berücksichtigt, wenn seine Einkünfte und Bezüge im Kalenderjahr den Jahresgrenzbetrag von 7.680 € (bis 2003: 7.188 €) nicht übersteigen. Nach der früheren Rechtsprechung des BFH war – ausgehend vom einkommensteuerlichen Einkünftebegriff – der Arbeitslohn des Kindes für die Berechnung, ob der Jahresgrenzbetrag überschritten ist, nicht um die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen (BFH, Urteil vom 4.11.2003, VIII R 59/03, BStBl II 2004, 584, BFH-PR 2004, 137).
Das BVerfG hat dieser Auffassung widersprochen, da die Sozialversicherungsbeiträge dem Kind bzw. den Eltern nicht für Unterhaltszwecke zur Verfügung stehen und sie daher nicht entsprechend entlasten. Das BVerfG hat daher entschieden, dass die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung von den Einkünften des Kindes abzuziehen sind (BVerfG, Beschluss vom 11.1.2005, 2 BvR 167/02, BFH/NV 2005, Beil. 3, 260).
Unter Hinweis auf die BVerfG-Entscheidung haben viele Eltern rückwirkend Kindergeld beantragt. Der BFH hat nun zu der Frage Stellung genommen, ob auch in den Fällen, in denen die Familienkasse wegen Überschreitens des Grenzbetrags die Gewährung von Kindergeld bereits bestandskräftig abgelehnt hat, nachträglich unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide Kindergeld bewilligt werden kann. Der BFH differenziert wie folgt:
1. Wurde die Kindergeldfestsetzung nach Ablauf des Kalenderjahrs abgelehnt oder aufgehoben und ist der Bescheid bestandskräftig geworden, hilft die neue BVerfG-Entscheidung nicht weiter. Denn nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben unanfechtbare Verwaltungsakte von einer BVerfG-Entscheidung, die eine Norm für verfassungswidrig erklärt, unberührt. Es greift keine Korrekturvorschrift ein, die die Bestandskraft der Ablehnung durchbrechen könnte:
a) § 70 Abs. 2 und 3 EStG sind auf Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheide nicht anwendbar.
b) Auch § 70 Abs. 4 EStG hilft nicht weiter. Denn die Vorschrift stellt sicher, dass eine Kindergeldfestsetzung noch nach Ablauf des Kalenderjahrs korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag entgegen einer früheren Prognoseentscheidung der Familienkasse über- oder unterschreiten.
Die Regelung greift daher nur ein, wenn die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder während eines Kalenderjahrs als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte/Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist. Nicht anwendbar ist diese Korrekturvorschrift somit in Fällen, in denen der Ablehnungsbescheid oder die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung erst nach Jahresablauf ergangen ist.
c) Eine Änderungsmöglichkeit ergibt sich auch nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Denn die BVerfG-Entscheidung ist keine die Korrektur eröffnende neue Tatsache. Sie stellt lediglich eine von der bisherigen Auffassung abweichende rechtliche Beurteilung bereits bekannter Tatsachen dar.
d) § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ist ebenfalls nicht einschlägig. Der Beschluss des BVerfG stellt kein rückwirkendes Ereignis dar. Es handelt sich lediglich um eine andere rechtliche Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch das Kind.
2. Anders ist es, wenn vor Beginn oder während des Kalenderjahrs im Weg einer Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte/Bezüge des Kindes die Zahlung von Kindergeld abgelehnt wurde. ...