Leitsatz
Es ist weder ermessensfehlerhaft noch verstößt es gegen Unionsrecht, wenn das FA es ablehnt, die unionsrechtswidrige, aber durch letztinstanzliche Entscheidung des BFH rechtskräftig gewordene Versagung des Sonderausgabenabzugs für Schulgeld, das an Privatschulen in anderen Mitgliedstaaten gezahlt wurde, im Billigkeitswege dadurch zu korrigieren, dass es die entsprechende Steuer erstattet.
Normenkette
§ 227 AO, § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F., Art. 56, Art. 57, Art. 21, Art. 267 Abs. 3 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV
Sachverhalt
Mit Urteil vom 11.6.1997, X R 74/95 (BFHE 183, 436) hatte der BFH – ohne dem EuGH die Streitsache vorzulegen – die Revision der Kläger zurückgewiesen, mit der sie den Abzug des 1992 an eine britische Privatschule gezahlten Schulgelds als Sonderausgaben zu erreichen versucht hatten. Der EuGH entschied im September 2007, der fehlende Abzug verletze die Dienstleistungsfreiheit, wenn Schulgeld nur bei Zahlungen an inländische Privatschulen als Sonderausgaben abziehbar sei. Der daraufhin gestellte Antrag der Kläger, den Steuerbescheid 1992 zu ändern, wurde sowohl vom FA, dem FG als auch dem BFH abgelehnt. Den im Anschluss hieran gestellten streitgegenständliche Antrag auf Erlass der Steuern aus Billigkeitsgründen lehnte das FA ab. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage war ebenfalls nicht erfolgreich (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24.10.2011, 1 K 1040/11, Haufe-Index 3609581, EFG 2013, 578). Zur Begründung ihrer Revision machten die Kläger geltend, das FG habe nicht dargelegt, wie sich das Effektivitätsprinzip des Unionsrechts bei bestehender Bestandskraft eines Steuerbescheids auf die Billigkeitsentscheidung nach § 227 AO auswirke, wenn sich nach Erschöpfung des Rechtswegs herausstelle, dass der bestandskräftige Steuerbescheid das Unionsrecht verletze und deswegen rechtswidrig sei.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision aus den unter den PraxisHinweisen dargestellten Gründen als unbegründet zurückgewiesen. Es sei nicht unbillig i.S.d. § 227 AO, den Klägern die ESt nicht zu erstatten, die darauf beruht, dass ihnen der Sonderausgabenabzug des an die britische Privatschule gezahlten Schulgelds verwehrt worden sei, obwohl dies vom Unionsrecht gefordert gewesen wäre.
Hinweis
"Wer zu früh kommt, den strafen die Gerichte". So dürfte das bittere Fazit des Steuerpflichtigen nach einem mehr als zwanzigjährigen letztlich erfolglosen Kampf um die Anerkennung von Schulgeldzahlungen an eine britische Privatschule als Sonderausgaben lauten.
Im vorliegenden Urteil hatte der BFH zu entscheiden, ob das FA verpflichtet gewesen war, in einem Billigkeitsverfahren die betreffende Steuerschuld trotz entgegenstehender letztinstanzlicher Entscheidung zu erlassen. Diese Frage hat der BFH verneint und das folgendermaßen begründet:
1. Im nationalen Recht ist ein Billigkeitserlass trotz entgegenstehenden bestandskräftigen Steuerbescheids im Interesse der Rechtssicherheit nur möglich, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren. Die Rechtssicherheit ist noch stärker zu gewichten, wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, da die Wertung des § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO zu beachten ist.
2. Auch dem Unionsrecht kann nicht entnommen werden, dass eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftig festgesetzte Steuer erstattet werden müsste. Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung betont, zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollten nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können. Damit gebietet das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte.
3. Da auf dem Gebiet des Verfahrensrechts unionsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, Umfang und Grenzen des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Die zu berücksichtigenden Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz werden vom deutschen Verfahrensrecht beachtet.
4. Es sind zwar die Grundsätze des EuGH-Urteils vom 13.1.2004, C-453/00, Kühne & Heitz (Slg. 2004, I-837) zu beachten, wonach in den Fällen, in denen
(a) die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
(b) die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,
(c) das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht wo...