Leitsatz
1. Von einer unrichtigen Sachbehandlung nach § 346 Abs. 1 AO ist dann auszugehen, wenn sich die Vollstreckungsmaßnahme unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls im Zeitpunkt ihrer Vornahme durch die Finanzbehörde dadurch als offensichtlich fehlerhaft erweist, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Durchführung nicht vorliegen oder dass die Grenzen des der Finanzbehörde zustehenden Ermessens deutlich überschritten worden sind.
2. Nach Ablehnung des Antrags auf AdV ist die Finanzbehörde grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, dem Vollstreckungsschuldner vor Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen eine bis zu sechs Wochen zu bemessende Frist einzuräumen, um ihm damit Gelegenheit zu geben, beim FG einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen zu können; denn die Rechtsprechung des BFH, nach der sich die Entscheidung über die AdV in den Fällen der Zurückverweisung der Hauptsache zur weiteren Sachaufklärung auf den Zeitraum bis zu sechs Wochen nach der Zustellung des Revisionsurteils erstrecken kann, ist auf den Fall der Ablehnung eines AdV-Antrags durch die Finanzbehörde nicht übertragbar.
Normenkette
§ 346 Abs. 1 AO , § 258 AO , § 69 Abs. 3 FGO
Sachverhalt
Das FA hatte gegen eine GmbH Steuerbescheide mit erheblichen Nachforderungen erlassen. Da sich diese nicht beitreiben ließen, nahm es den Gesellschafter-Geschäftsführer in Haftung. Dieser beantragte – ebenso wie es die GmbH getan hatte – AdV. Das FA teilte ihm mit, dass über seinen Antrag erst nach einer Entscheidung des FG über den von der GmbH gestellten AdV-Antrag entschieden werde solle.
Diesen lehnte das FG später ab: Wenige Monate danach lehnte das FA denjenigen des Geschäftsführers ab und schritt sogleich zur Vollstreckung, indem es noch vor Ablauf der Einspruchsfrist Pfändungs- und Einziehungsverfügung erließ. Später wurde indes der Haftungsbescheid vom FG aufgehoben. Wer trägt die Vollstreckungskosten?
Entscheidung
Das FA darf keine Vollstreckungskosten festsetzen. Denn der Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen war ermessenswidrig. Von einer Erhebung der Vollstreckungskosten ist daher gem. § 346 Abs. 1 AO ("unrichtige Sachbehandlung") abzusehen.
Nach Ablehnung des AdV-Antrags des Geschäftsführers war keine Eile geboten, um die Vollstreckung durchzuführen. Dieser durfte nach dem gesamten Verfahrensverlauf damit rechnen, nicht sofort mit Vollstreckung überzogen zu werden. Unter den gegebenen Umständen des Einzelfalls beruhten die Vollstreckungsmaßnahmen daher auf rechtsfehlerhaft ausgeübtem Entschließungsermessen. Das FA hat nach Ansicht des BFH einen offensichtlichen Fehler begangen, der die Annahme einer unrichtigen Sachbehandlung i.S.v. § 346 AO rechtfertigt.
Hinweis
1. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 251 Abs. 1 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Verwaltungsakte, mit denen eine Geldleistung gefordert wird, bekanntlich im Verwaltungsweg vollstrecken. Dabei handelt es sich selbstredend um Ermessensentscheidungen.
Erwarten Sie nicht, dass sich die Gerichte bei der – von Rechts wegen eingeschränkten – Überprüfung solcher Entscheidungen stets so weit "vorwagen", wie der BFH (und das FG) in der Besprechungsentscheidung!
2. Nach Ablehnung eines Antrags auf AdV sind die Voraussetzungen für die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen nach § 251 Abs. 1 Satz 1 AO grundsätzlich gegeben. Denn erst die Gewährung von AdV hindert die Vollstreckung eines Verwaltungsakts. Selbst wenn über eine vom Vollstreckungsschuldner beantragte AdV noch nicht entschieden worden ist, kann aufgrund der sofortigen Vollziehbarkeit von Steuerbescheiden bereits vollstreckt werden! Die Finanzbehörden halten dann allerdings im Allgemeinen – ohne obligo! – still.
3. Vollstreckungskosten sind nicht zu erheben, wenn sie bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären (§ 346 Abs. 1 AO). Der Erlass von Vollstreckungsmaßnahmen muss also offensichtlich fehlerhaft sein, weil entweder die rechtlichen Voraussetzungen hierfür überhaupt nicht vorliegen oder die Grenzen des Ermessens, das die Behörde bei der Durchführung der Vollstreckung im Übrigen hat, überschritten sind. Nicht ausreichend ist also etwa bloße Unzweckmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme, erst recht nicht die spätere Aufhebung der Vollstreckungsmaßnahme in einem Rechtsbehelfsverfahren. Eine bestimmte Wartefrist nach Ablehnung eines AdV-Antrags ähnlich der Aussetzungsfrist bei Stattgabe des Aussetzungsantrags und Zurückverweisung der Hauptsache an das FG besteht aber nicht!
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27.10.2004, VII R 65/03