Leitsatz
1. Die überlange Dauer eines Einspruchs- oder Klageverfahrens steht der Festsetzung von Aussetzungszinsen für dieses Verfahren – auch unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung – nicht entgegen.
2. Eine Entschädigungsklage nach §§ 198 ff. GVG kann nicht auf die überlange Dauer eines vor einer Finanzbehörde anhängigen Verfahrens gestützt werden. Dem Steuerpflichtigen stehen mit dem Untätigkeitseinspruch bzw. der Untätigkeitsklage hinreichende präventive Rechtsbehelfe gegen eine Verfahrensverzögerung zur Verfügung.
3. Der Anwendungsbereich der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Gewährleistungen beschränkt sich auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine erhobene strafrechtliche Anklage. Steuerrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne werden von dieser Gewährleistung nicht erfasst.
Normenkette
§ 237, § 347 Abs. 1 Satz 2 AO, § 46 FGO, § 198 GVG, Art. 6 Abs. 1 EMRK
Sachverhalt
E war u.a. Einzelunternehmer. 1991 erwarb er von seiner Ehefrau ein Mietwohngrundstück, das er als Betriebsvermögen behandelte. Gleiches geschah mit einem im Jahr 1992 erworbenen weiteren Mietwohngrundstück. E ordnete jeweils 80 % der Anschaffungskosten den Gebäuden zu und nahm hierauf neben der linearen AfA Sonderabschreibungen nach dem Fördergebietsgesetz in Höhe von 50 % der Anschaffungskosten vor. In der 1995/1996 durchgeführten Außenprüfung war der Prüfer der Ansicht, es müsse ein höherer Anteil des Kaufpreises dem Grund und Boden zugeordnet werden. Ende 1997 erließ das FA einen geänderten ESt-Bescheid, in dem es der Auffassung des Prüfers folgte. Es gewährte sowohl für das Einspruchs- als auch für das nachfolgende Klageverfahren AdV. Im Juni 2011 wies das FG die Klage ab. Mit Bescheid vom 7.12.2012 setzte das FA Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer 1991 i.H.v. insgesamt fast 500.000 EUR fest. Im Einspruchs- und Klageverfahren gegen diesen Bescheid wurde geltend gemacht, wegen einer überlangen Dauer des gesamten Verfahrens sei der Zinsanspruch des FA verwirkt und auf den Beschluss des FG Rheinland-Pfalz in EFG 2011, 757 sowie auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen. Das FG wies die Klage ab (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.11.2014, 4 K 4145/13, Haufe-Index 7693513).
Entscheidung
Die Revision war aus den unter den Praxis-Hinweisen aufgezeigten Gründen unbegründet.
Hinweis
1. Die Problematik dieses Rechtsstreits war, ob eine überlange Dauer eines Einspruchs- und/oder Klageverfahrens der Festsetzung von Aussetzungszinsen in der gesetzlichen Höhe entgegensteht.
Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung aus der überlangen Verfahrensdauer keine materiell-rechtlichen steuerlichen Folgen gezogen, da sie nicht zur Verwirkung desjenigen Steueranspruchs führt, der Gegenstand des verzögerten Verwaltungsverfahrens oder Rechtsstreits ist. An dieser Rechtsprechung ändert sich auch nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG nichts.
2. In Bezug auf die Festsetzung von Zinsen gilt ebenfalls in ständiger Rechtsprechung, dass der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachzahlungszinsen trotz schuldhaft verzögerter Bearbeitung einer Steuererklärung durch das FA jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich einen Zinsvorteil hatte, der nicht geringer war als die vom FA festgesetzten Zinsen.
3. Allein aus einer überlangen Dauer des außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens, das der Festsetzung von Aussetzungszinsen zugrunde liegt, folgt nicht, dass die Ablehnung eines Antrags auf Erlass der Aussetzungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtsfehlerhaft wäre.
Dem stehen auch §§ 198ff. GVG nicht entgegen. Nach der ständiger Rechtsprechung des X. Senats zu den Entschädigungsklagen erfassen diese Vorschriften zunächst nicht die überlange Dauer behördlicher Verfahren, weil insoweit seit jeher hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten (Untätigkeitseinspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und Untätigkeitsklage nach § 46 FGO) bestehen. In Bezug auf die überlange Verfahrensdauer eines gerichtlichen Verfahrens kann der Beteiligte die durch die verzögerte Bearbeitung entstandenen Aussetzungszinsen als materiellen Schaden ersetzt erlangen.
4. Art. 6 Abs. 1 EMRK kann in Steuerstreitverfahren nicht zugunsten eines Steuerpflichtigen herangezogen werden. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich auf "Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage". Auch wenn der Begriff "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" in der Rechtsprechung des EGMR traditionell sehr weit ausgelegt wird, fallen steuerrechtliche Streitigkeiten (im engeren Sinne) nach ständiger Rechtsprechung nicht darunter (vgl. z.B. Urteil des EGMR vom 12.7.2001, 44759/98, Ferrazzini/Italien, NJW 2002, 3453). Der gegenteiligen Auffassung des FG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 17.12.2010, 6 V 1924/10, EFG 2011, 757) erteilt der X. Senat mit diesem Urteil eine ausdrückliche Absage.
5. Das geltende Rech...