Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Kenntnisse einer weisungsbefugten Oberbehörde über eine dem Veranlagungs-FA bei der Steuerfestsetzung nicht bekannte Tatsache muss sich dieses im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht zurechnen lassen.
2. Der Inhalt einer im LSt-Abzugsverfahren dem Arbeitgeber erteilten Anrufungsauskunft bindet die Wohnsitz-FÄ bei der ESt-Veranlagung der Arbeitnehmer nicht.
3. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG steht der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers im Veranlagungsverfahren nicht entgegen.
Normenkette
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 42d Abs. 3 S. 4, § 42e EStG
Sachverhalt
K wurde als Arbeitnehmer zunächst erklärungsgemäß zur ESt 2006 veranlagt. Im Januar 2009 änderte das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO den ESt-Bescheid für 2006, indem es Ks Lohn um 5 035 EUR erhöhte. Grundlage war die LSt-Außenprüfung bei der FDG, der Arbeitgeberin des K. Die FDG hatte 2006 den Bruttoarbeitslohn des K um 5 035 EUR gemindert, weil sie negativen Lohn angesetzt hatte, um in den Vorjahren einen bei ihren Arbeitnehmern und damit auch bei K zu hohen Lohnansatz auszugleichen. Das war auch Sachverhalt und Gegenstand des Verfahrens VI R 3/09 (vgl. bei BFH/PR 2011, 17).
Das FG beurteilte die Änderung des an K gerichteten ESt-Bescheids als rechtmäßig (FG Düsseldorf, Urteil vom 05.11.2009, 11 K 832/09 E, Haufe-Index 2349898).
Entscheidung
Der BFH bestätigte aus den unter Praxis-Hinweisen dargelegten Erwägungen das Urteil des FG.
Hinweis
Dem Streitfall hier liegt derselbe Sachverhalt wie dem Urteil vom 02.09.2010 zugrunde (VI R 3/09, BFH/NV 2010, 2345, BFH/PR 2011, 17). Während im Verfahren VI R 3/09 allerdings die LSt-Anmeldung des Arbeitgebers streitig war, geht es hier um die ESt des Arbeitnehmers. Die Rechtsfragen dazu lauten: 1. darf die ESt des Arbeitnehmers nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden, obwohl dem Arbeitgeber eine gegenteilige, nämlich positive Anrufungsauskunft im LSt-Abzugsverfahren erteilt war? 2. muss sich das Wohnsitz-FA Kenntnisse seiner vorgesetzten Behörde oder einer zentralen Außenprüfungsstelle zurechnen lassen?
1. Die Tatsache der Eintragung eines zu geringen Bruttoarbeitslohns in der LSt-Bescheinigung des K war i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dem FA erst nachträglich bekannt geworden. Entscheidend ist die Kenntnis der Personen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisatorisch für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind. Daran fehlte es hier. Der Dienststelle lagen auch keine fallbezogenen elektronischen Informationen dazu vor. Mögliche Kenntnisse der zentralen LSt-Außenprüfung (ZALST) oder der OFD können nicht zugerechnet werden. Sie sind nicht für die ESt-Veranlagung zuständig. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben half hier nicht. Pflichtwidriges Nichtinformieren durch die OFD ist dem FA nicht zuzurechnen. Und materielle Fehler aus vorangegangenen Jahren sind nicht dadurch zu korrigieren, dass im nächsten noch offenen Jahr ein weiterer materieller Fehler als Ausgleich bewusst eingearbeitet wird.
2. Die der FDG erteilte Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) stand einer Änderung des bisher falschen Ansatzes des Lohns nicht entgegen. Denn die Anrufungsauskunft bindet ausschließlich das sie erteilende Betriebsstätten-FA im Rahmen des LSt-Abzugsverfahrens. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG konnte K auch nicht helfen. Denn auch diese Norm gilt trotz irreführenden Wortlauts nicht im Veranlagungs-, sondern nur im LSt-Abzugsverfahren. Und mangels eines vom FA gesetzten Vertrauenstatbestands konnte sich K auch insoweit nicht auf Treu und Glauben berufen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.01.2011 – VI R 61/09