Leitsatz
1. Ein sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ergebender Anspruch auf Kindergeld entfällt nicht dadurch, dass der Anspruchsberechtigte gem. Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht den deutschen Rechtsvorschriften, sondern nur den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union unterliegt. Für die Anwendbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften bedarf es keines zusätzlichen nationalen Anwendungsbefehls.
2. Ist Deutschland nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes, dann ist die Konkurrenz zu Ansprüchen, die im zuständigen Mitgliedstaat bestehen, nach nationalem Recht zu lösen.
3. Bei der Auslegung der deutschen Konkurrenzvorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind die Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beachten.
Normenkette
§ 1 Abs. 3, § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG, Art. 13 Abs. 1 Satz 1, Art. 14a Nr. 1 Buchst. a VO Nr. 1408/71
Sachverhalt
Der Kläger, polnischer Staatsangehöriger und Vater von zwei Kindern, lebt mit seiner Familie in Polen. Vom 30.5. bis 6.7.2007 sowie vom 16.8. bis 12.10.2007 war er bei einem deutschen Unternehmen im Inland nicht selbstständig beschäftigt. In Polen war er als Selbstständiger sozialversicherungspflichtig. In der Einkommensteuererklärung 2007 beantragte er, als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt zu werden. Ausweislich der Bescheinigung "EU/EWR" hatte er 2007 in Polen keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt.
In seinem Antrag auf Bewilligung von Kindergeld gab er an, dass seine Ehefrau für September 2006 bis August 2007 polnische Familienleistungen bezogen habe.
Die Familienkasse lehnte den Antrag ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das FG Düsseldorf, Urteil vom 1.2.2011, 10 K 2378/08 Kg, entschied, dass ein Kindergeldanspruch nur nach polnischem Recht bestehe. Den §§ 62ff. EStG sei nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anzuwenden sei, wenn nach der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung fänden. Ein Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber erforderlich, weil die VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgehe und deren Anwendungsbereich begrenze.
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf, verwies zurück und gab umfangreiche Hinweise für den zweiten Rechtsgang.
Hinweis
1. Wer keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, aber nach § 1 Abs. 3 EStG vom FA als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird, hat Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG. Eine Veranlagung als unbeschränkt Steuerpflichtiger nach § 1 Abs. 1 EStG, zu der es häufig kommt, wenn Saisonarbeiter ihre Einkommensteuererklärung unter einer inländischen Adresse abgeben, genügt insoweit nicht.
2. Die Anspruchsberechtigung entfällt nicht dadurch, dass der Elternteil gem. Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht den deutschen Rechtsvorschriften, sondern nur den Vorschriften eines anderen EU-Mitgliedstaats unterliegt. Die gegenteilige BFH-Rspr. ist durch das EuGH-Urteil vom 12.6.2012, C‐611/10, C‐612/10, Hudzinski und Wawrzyniak überholt. Mangels einer europarechtlichen Sperrwirkung richtet sich die Anspruchsberechtigung allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts.
3. Ausreichend ist ein Anspruch nach den §§ 62ff. EStG. Eines zusätzlichen nationalen Anwendungsbefehls (etwa "Kindergeld kann auch beansprucht werden, wenn Deutschland nach den gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften nicht der zuständige Mitgliedsstaat … ist") bedarf es nicht.
Gegen die von einigen FG vertretene Gegenansicht, dass der unzuständige Mitgliedstaat die Anwendung seiner an sich unanwendbaren Vorschriften ausdrücklich anordnen müsse, spricht bereits das Fehlen einer europarechtlichen Sperrwirkung. Daher bedürfte es eines Ausschlusstatbestandes, wenn das Kindergeld bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nur unter dem Vorbehalt der Zuständigkeit Deutschlands i.S.d. Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 (oder – seit 1.5.2010 – der VO 883/04 i.V.m. VO 987/09) gewährt werden soll. Ein derartiger Vorbehalt findet sich in den §§ 62ff. EStG nicht.
4. Für die vom FG im zweiten Rechtsgang vorzunehmende Prüfung der Anspruchsberechtigung des Klägers nach deutschem Recht hat der BFH eine ausführliche "Segelanweisung" mitgegeben:
- Wenn sich die Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG (statt nach § 1 Abs. 1 EStG) nicht aus dem Wortlaut oder Inhalt des Steuerbescheids ergibt, kann es auf die Ausübung des Antragswahlrechts des Anspruchstellers sowie die Bescheinigung nach § 39c Abs. 4 EStG (i.d.F. bis 2011) ankommen.
- Die Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG verschafft einen Kindergeldanspruch nicht für das ganze Jahr, sondern nur für die Monate, in denen der Anspruchsteller Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt hat.
Falls der Saisonarbeitnehmer danach Kindergeld beanspruchen kann, ist die Konkurrenz zu etwai...