Leitsatz
1. Ein Kindergeldantrag, der von einem im Inland lebenden, jedoch nur nachrangig berechtigten Elternteil gestellt worden ist, hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist und verhindert den Eintritt der Festsetzungsverjährung zugunsten des anderen, im EU-Ausland lebenden Elternteils, der vorrangig anspruchsberechtigt ist, aber zunächst keinen eigenen Kindergeldantrag gestellt hat.
2. Ein derartiger, vor dem 01.01.2016 gestellter Antrag macht die Beachtung der strengeren Identifizierbarkeitsanforderungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. entbehrlich.
Normenkette
§§ 31 ff., §§ 62 ff. EStG, § 155 Abs. 5, §§ 169 ff. AO, Art. 67, Art. 68 VO Nr. 883/2004, Art. 60 VO Nr. 987/2009
Sachverhalt
Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebte zusammen mit ihrer Tochter T in Griechenland. Sie war nicht erwerbstätig und bezog auch keine Rente. Ein Anspruch auf Familienleistungen in Griechenland bestand nicht.
Der in Deutschland lebende Vater (V) der T war erwerbsunfähig und erhielt seit ... 2015 die gesetzliche Altersrente, weshalb die Familienkasse den Kindergeldanspruch der Klägerin ab 2015 anerkannte.
V stellte am 11.4.2013 einen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld für T, der 2015 abgelehnt wurde. Einspruch und Klage des V hatten keinen Erfolg. Das FG hielt gemäß § 64 Abs. 1 EStG allenfalls die Klägerin, nicht aber V für anspruchsberechtigt.
Im Juli 2017 stellte die Klägerin einen Kindergeldantrag, den die Familienkasse am 28.6.2018 ablehnte, weil der Kindergeldanspruch im Streitzeitraum nur auf dem Wohnsitz des V in Deutschland beruhe.
Das FG verpflichtete die Familienkasse, zugunsten der Klägerin Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2012 bis ... 2015 festzusetzen (FG Münster, Urteil vom 10.12.2019, 11 K 2529/18 Kg, Haufe-Index 13687043).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Ein Anspruch auf Familienleistungen besteht auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Für diese wird ein inländischer Wohnsitz fingiert (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 – sog. Durchführungsverordnung).
2. Der Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld ist im nachrangig zuständigen Mitgliedsstaat gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, wenn der Kindergeldanspruch dort allein auf dem Wohnsitz beruht.
Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist aber nur anwendbar, wenn Ansprüche auf Familienleistungen in mehr als einem Mitgliedstaat tatsächlich bestehen (z.B. BFH, Urteil vom 18.2.2021, III R 27/19, BFH/NV 2021, 886, Rz. 21).
Das hat zur Folge, dass ein ausländischer Anspruch i.H.v. z.B. monatlich 10 EUR den deutschen Anspruch vollständig entfallen lässt, Deutschland als nachrangig zuständiger Staat hingegen das volle Kindergeld zahlen muss, wenn im Wohnsitzstaat der Kinder kein Anspruch besteht.
3. Kindergeld muss nach § 67 Satz 1 EStG schriftlich, aber nicht unter Verwendung eines amtlichen Vordrucks beantragt werden. Der Kindergeldantrag muss auch nicht eigenhändig unterschrieben werden; Vertretung ist zulässig.
4. Die Familienbetrachtung des Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 wirkt sich auch auf das Verfahrensrecht aus. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 ist ein von einem Elternteil gestellter Antrag auch zugunsten einer Person zu berücksichtigen, die selbst keinen Antrag gestellt hat.
Der Antrag des nicht kindergeldberechtigten Elternteils hemmt daher gemäß § 171 Abs. 3 AO den Ablauf der in der Regel vierjährigen Festsetzungsfrist zugunsten der anspruchsberechtigten Person, bis (auch über deren Anspruch!) unanfechtbar entschieden worden ist.
Zur gegenwärtigen Rechtslage: Die Festsetzung war nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. und die Auszahlung von Kindergeld ist nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf die letzten sechs Monate vor Antragstellung beschränkt; diese Vorschriften waren hier nicht einschlägig.
5. Im Streitfall wurde der in Griechenland lebenden Klägerin, die selbst Kindergeld erst im Jahr 2017 beantragt hatte, der 2013 gestellte Antrag des in Deutschland lebenden Vaters der Kinder zugerechnet. Dem stand nicht entgegen, dass dieser Antrag (für den Vater!) vom FG rechtskräftig abgelehnt wurde.
6. Die Klägerin musste im Streitfall nicht gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG in der ab 9.12.2014 geltenden Fassung identifizierbar sein, da der für sie maßgebliche Antrag des Vaters bereits 2013 gestellt wurde (§ 52 Abs. 49a Sätze 4 und 5 EStG).
Im Übrigen kann die Identifikation in Auslandsfällen statt durch Identifikationsnummer auch in anderer geeigneter Weise erfolgen (BFH, Urteil vom 1.7.2020, III R 22/19, BFH/PR 2021, 69, Rz. 22).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 31.8.2021 – III R 10/20