Leitsatz
1. Anhang I Teil I Buchst. D (bzw. Buchst. E in der ab 2007 geltenden Fassung) Ziff. b der VO Nr. 1408/71 sieht eine Anwendung der für Familienleistungen geltenden Vorschriften der Art. 72 ff. der VO Nr. 1408/71 für den Fall, dass ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen ist, bei in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Selbstständigen nur dann vor, wenn eine Versicherungspflicht besteht, nicht dagegen bei einer nur freiwilligen Versicherung.
2. Erfüllt ein nach deutschem Recht Kindergeldberechtigter die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D (bzw. Buchst. E in der ab 2007 geltenden Fassung) der VO Nr. 1408/71 nicht, kann sich eine Anwendbarkeit der Antikumulierungsvorschriften des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und des Art. 10 der VO Nr. 574/72 auch daraus ergeben, dass der andere Elternteil in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt und deshalb die Kinder als Familienangehörige i.S.d. Art. 1 Buchst. f Ziff. i der VO Nr. 1408/71 anzusehen sind.
Normenkette
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, Art. 13, Art. 76, Anhang I VO Nr. 1408/71, Art. 10 VO Nr. 574/72
Sachverhalt
Der Kläger war in Deutschland als Handelsvertreter selbstständig tätig und erhält seit Februar 2007 eine Regelaltersrente. In die Rentenversicherung für Angestellte hatte er bis 1969 Pflichtbeiträge und danach bis Ende 2005 freiwillige Beiträge gezahlt. Seine Ehefrau lebt mit den beiden gemeinsamen Kindern seit Oktober 2000 in Österreich. Seit Anfang 2006 ist sie dort nicht selbstständig tätig und hat Anspruch auf Familienleistungen.
Der Kläger erhielt bis Januar 2006 deutsches Kindergeld in der gesetzlichen Höhe. Die Familienkasse änderte sodann die Festsetzung in der Weise, dass dem Kläger für November 2000 bis Januar 2006 nur noch das hälftige Kindergeld zustand.
Die Klage war für den Zeitraum November 2000 bis Dezember 2003 wegen Festsetzungsverjährung erfolgreich; im Übrigen wies das FG Düsseldorf sie durch Urteil vom 10.11.2009, 10 K 4210/08 Kg, wegen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG als unbegründet ab.
Entscheidung
Die Revision führte hinsichtlich des Kindergelds für Januar 2004 bis Januar 2006 zur Aufhebung und Zurückverweisung. Das FG hat im zweiten Rechtsgang den Versichertenstatus des Klägers zu prüfen, von dem die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften abhängt. Nach den VO Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 würde dem Kläger das volle Kindergeld für diejenigen Monate zustehen, in denen die Ehefrau in Österreich keine Berufstätigkeit ausgeübt hat.
Hinweis
1. Kindergeld wird nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht gezahlt, wenn im Ausland ein vergleichbarer Anspruch besteht. Um eine vollständige Versagung von Kindergeld zu vermeiden, wenn der andere Staat eine vergleichbare Vorschrift kennt, wenden die Familienkassen Art. 12 VO (EWG) 1408/71 und Art. 7 Abs. 1 DVO 574/72 analog an und gewähren hälftiges Kindergeld.
2. Da § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG durch gemeinschaftsrechtliche Antikumulierungsvorschriften verdrängt wird, ist vorrangig zu prüfen, ob die VO Nr. 1408/71 oder die VO Nr. 574/72 bzw. die am 1.5.2010 in Kraft getretenen Nachfolgebestimmungen (VO Nr. 883/2004 und 987/2009) eingreifen.
3. Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 ist für Arbeitnehmer und Selbstständige eröffnet, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats sind. Arbeitnehmer und Selbstständige sind die im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 aufgeführten Sozialversicherungssysteme versicherten Personen. Entscheidend ist also der Versichertenstatus, nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit. Die pflichtgemäße oder freiwillige Versicherung gegen ein einziges Risiko genügt.
4.Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 wird jedoch nach deren Anhang I für verschiedene Mitgliedstaaten wieder eingeschränkt. Wenn ein deutscher Träger für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, gilt als Selbstständiger nur, wer in einer (Sonder-)Versicherung der selbstständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.
5. Die Antikumulierungsvorschriften der VO Nr. 1408/71 können auch dann eingreifen, wenn zwar der nach deutschem Recht Kindergeldberechtigte deren Voraussetzungen nicht erfüllt, wohl aber der andere Elternteil, und die Kinder deshalb als Familienangehörige i.S.d. VO Nr. 1408/71 anzusehen sind.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 19.4.2012 – III R 87/09