Leitsatz
1. Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird, bestimmt sich dies grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbstständige Tätigkeit ausübt.
2. Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und Art. 10 der VO Nr. 574/72 sind auch dann anzuwenden, wenn der in Deutschland tätige Elternteil nicht die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 erfüllt, jedoch der andere Elternteil parallele Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum hat und selbst in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt, sodass über diesen die Kinder als Familienangehörige im Sinne der VO Nr. 1408/71 gelten.
Normenkette
§§ 62ff. EStG, Art. 13 Abs. 2 Buchst. b, Art. 76 Anhang I Teil I VO Nr. 1408/71, Art. 10 VO Nr. 574/72
Sachverhalt
Der Kläger und seine Ehefrau leben seit August 2007 mit ihrer 2006 geborenen Tochter in Deutschland. Der Kläger war zunächst in Griechenland als Architekt selbstständig tätig und dort in der Kasse für Ingenieure und Bauunternehmer … (TSMEDE) rentenversichert. Er erzielt seit August 2007 nur noch in Deutschland Einkünfte aus selbstständiger Arbeit und ist seit April 2008 Mitglied des Versorgungswerks einer deutschen Architektenkammer. Seine Ehefrau ist eine vom griechischen Staat beamtete Lehrerin und unterrichtet bei einem griechischen Generalkonsulat in Deutschland. Sie erhält 18 EUR Kindergeld vom griechischen Staat.
Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag ab: Weil der Kläger im Wohnland des Kindes nicht im Sinne des Beschlusses Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen Union erwerbstätig sei, sei der Anspruch seiner Ehefrau im Ausland nach Art. 10 VO Nr. 574/72 vorrangig.
Das FG Düsseldorf (Urteil vom 17.6.2009, 7 K 2496/08 Kg, Haufe-Index 2597592, gab der auf das Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 136 EUR für die Monate August 2007 bis März 2008 gerichteten Klage statt ...
Entscheidung
... und der BFH wies die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Ein nach deutschem Recht gegebener Kindergeldanspruch kann nach bisheriger Meinung durch Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen sein. Geltung und Reichweite dieses Ausschlusses sind jedoch durch das EuGH-Urteil vom 12.6.2012, C‐611/10, C‐612/10Hudzinski (ABl EU 2012, Nr. C 227, 4, DStRE 2012, 999) infrage gestellt worden. Die Familienkassen haben sich dazu noch nicht festgelegt und prüfen gegenwärtig, ob und in welchen anhängigen Fällen sie abhelfen wollen.
2. Der BFH konnte die möglichen Folgen des EuGH-Urteils vom 12.6.2012 dahinstehen lassen, da Deutschland nach der VO Nr. 1408/71 ohnehin der zuständige Staat ist und der Kindergeldanspruch damit nicht ausgeschlossen sein konnte:
- Der persönliche Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist eröffnet, weil der Kläger in Griechenland in einer berufsständischen Kasse versichert ist.
- Seine selbstständige Tätigkeit wird im Hinblick auf die Kollisionsregeln der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 in Deutschland ausgeübt, weil er hier als Architekt tätig wird; die Versicherung in einem anderen Mitgliedstaat ist insoweit unerheblich (Leitsatz 1).
- Die Ehefrau des Klägers unterliegt als Beamtin eines Mitgliedstaats ebenfalls der VO Nr. 1408/71. Da der Kläger aber seine Berufstätigkeit im Wohnland des Kindes (Deutschland) ausübt, ist sein Anspruch nicht nach Art. 10 der VO Nr. 574/72 ausgeschlossen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 5.7.2012 – III R 76/10