Leitsatz
Ab einem Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Monaten besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit vom 11.12.1953 für türkische Staatsbürger ein Anspruch auf Kindergeld unter denselben Voraussetzungen wie für einen deutschen Staatsbürger.
Normenkette
§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 9 S. 2 AO, Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA
Sachverhalt
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit Ende 1995 in der Bundesrepublik auf, lebt mit seiner Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft und erhält Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Eine Erwerbstätigkeit ist ihm nicht gestattet. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Den Antrag auf Kindergeld für seine vier Kinder lehnte die Familienkasse ab. Ein Anspruch nach dem VEA bestehe nicht, da der bloße Aufenthalt in einem Übergangsheim nicht das dort vorausgesetzte Merkmal des "Wohnens" erfülle.
Das FG wies die Klage ab (Sächsisches FG, Urteil vom 30.04.2009, 1 K 1031/08 [Kg], Haufe-Index 2216936, EFG 2010, 154).
Entscheidung
Der BFH gab der Klage statt, da der Kläger sich von Beginn an zeitlich zusammenhängend mehr als sechs Monate im Inland aufhielt (vgl. § 9 S. 2 AO).
Hinweis
1. Türkische Staatsangehörige, die seit wenigstens sechs Monaten in der Bundesrepublik wohnen, haben wie deutsche Staatsangehörige nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit (VEA) einen Anspruch auf Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG, da das Kindergeld im Anhang des Abkommens aufgeführt wird. Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten die Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG für sie aufgrund des VEA nicht.
2."Wohnt" ein Asylbewerber, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, i.S.d. VEA im Inland? Der Begriff "Wohnen" wird im VEA nicht definiert. Für die Begriffsauslegung sind die Grundsätze des Teils III Abschn. 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (BGBl II 1985, 926) heranzuziehen. Danach ist bei einem Vertrag in zwei oder mehr als authentisch festgelegten Sprachen der Text in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern nicht bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll. Danach hat sich die Auslegung an dem englischen und dem französischen Vertragstext zu orientieren und nicht an der deutschen Übersetzung. Die englischen und französischen Texte setzen (lediglich) einen gewöhnlichen Aufenthalt oder einen Aufenthalt von mindestens sechs Monaten Dauer voraus.
3. Soweit davon abweichend in der deutschen Fassung der Begriff "Wohnen" verwendet wird, kann dies daher nicht zu der einschränkenden Auslegung führen, dass der Aufenthalt in einer eigenen Wohnung erforderlich ist. Bereits nach einem sechsmonatigen Aufenthalt im Bundesgebiet ergibt sich daher ein Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige. Dies dürfte auch bisher schon der Verwaltungsauffassung entsprochen haben (Vfg. vom 13.06.2007 zur Änderung der DA-FamEStG 2004, BStBl I 2007, 489; DA-FamEStG 2009, 64.4.2 Abs. 1 S. 2).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.06.2010 – III R 42/09