Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Ein Verzicht auf Teile der zustehenden Einkünfte i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG 2000 (jetzt: § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG 2002) liegt vor, wenn ein Kind mit dem Ziel der Erhaltung des Kindergeldanspruchs Vereinbarungen trifft, die ursächlich dafür sind, dass ein Anspruch auf Weihnachtsgeld nicht geltend gemacht werden kann, der ohne diese Vereinbarung bestanden hätte.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 9 EStG
Sachverhalt
Der Sohn des Klägers war in einem Ausbildungsdienstverhältnis beschäftigt. Er erhielt zu seinem laufenden Arbeitslohn ein Urlaubsgeld und eine Weihnachtsgratifikation. Die Weihnachtsgratifikation zahlte der Arbeitgeber jährlich unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit. Sie hätte im Streitjahr auch der Sohn erhalten, wenn er auf die Auszahlung nicht verzichtet hätte.
Der Beklagte ging bei der Ermittlung des Jahresgrenzbetrags von dem Jahresbruttolohn einschließlich des Anspruchs auf Weihnachtsgratifikation aus und hob die Kindergeldfestsetzung auf, weil der Lohn den Grenzbetrag überschritten habe. Einspruch und Klage blieben erfolglos (EFG 2002, 770).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Der Verzicht auf Einkünfte oder Bezüge könne einen wegen Überschreitens des Grenzbetrags entfallenden Kindergeldanspruch nicht erhalten. Das gelte jedenfalls dann, wenn ein anderer einleuchtender Grund als die Erhaltung des Kindergeldanspruchs für diesen Verzicht nicht erkennbar sei. Auf Form und Zeitpunkt der Verzichtserklärung komme es nicht an. Diese Auslegung sei verfassungsrechtlich unbedenklich.
Hinweis
Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges Kind u.a. nur, wenn dessen Einkünfte und Bezüge den gesetzlich festgelegten Grenzbetrag nicht übersteigen. Es war früher gängige und vom BSG auch gebilligte Praxis, auf (meist geringfügige) Teile der Einkünfte zu verzichten, um sich auf diese Weise den Kindergeldanspruch zu erhalten. Obwohl das EStG in § 32 Abs. 4 Satz 7 (jetzt § 32 Abs. 4 Satz 9) bestimmt, dass ein solcher Verzicht der Anwendung der Grenzbetragsregelung nicht entgegensteht, hat sich diese Praxis – nicht nur bei Angehörigendienstverhältnissen – in verschiedenen Gestaltungsvarianten (vgl. u.a. auch das BFH-Urteil vom 22.5.2002, VIII R 74/99, BFH-PR 2002, 445) offenbar fast ungebrochen erhalten.
Nach Ansicht des BFH dient die Verzichtsregelung der Missbrauchsabwehr. Er legt deshalb den Verzichtsbegriff weit aus. Das hat nicht nur zur Folge, dass sowohl Vereinbarungen der Vertragsparteien- regelmäßig zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer- und einseitige Erklärungen des Anspruchsberechtigten unter diesen Begriff fallen, sondern dass es auch auf den Zeitpunkt des Verzichts nicht ankommt. Es ist deshalb ohne Bedeutung, ob der Anspruch rechtlich bereits entstanden oder in der Entstehung begriffen ist oder ob auf Grund einer Zusage eine künftige Leistung lediglich erwartet werden kann. Es genügt, dass das Kind ohne seinen Eingriff in den normalen Verlauf des Rechtsverhältnisses die Einkünfte bezogen hätte (wie etwa ein freiwillig gezahltes Urlaubs- oder Weihnachtsgeld oder eine zugesagte Anhebung des Arbeitslohns).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 11.3.2003, VIII R 16/02